J.M.W. Turner war ein Genie. Niemand verstand es so gekonnt und so meisterlich wie er, mit Farbe und Pinsel das Phänomen des Lichts auf die Leinwand zu zaubern. Mit seiner Malerei wurde er im England des 19. Jahrhunderts zum gefeierten Künstler und zu einem der Vorläufer des Impressionismus. Doch als Mensch war Turner nicht gerade einfach. Von seiner Frau und seinen Töchtern lebte er getrennt, die Haushälterin diente als Ventil für seinen Frust. Andere Künstler sah er als lästige Konkurrenz oder war genervt von ihrer überzogenen Ehrerbietung. Doch je abstrakter Turners Kunst sich gestaltete, desto mehr wandten sich Kritiker und frühe Bewunderer ab. Trotzdem ließ er sich nicht beirren. Denn es war seine Kunst, die er der Welt hinterlassen wollte. In seinem Biopic über den großen englischen Maler Turner konzentriert sich Regisseur Mike Leigh auf die letzten zwanzig Jahre im Leben des Künstlers. In der Titelrolle brilliert Timothy Spall, der in seinem Spiel vortrefflich changiert zwischen dem privaten Misanthropen Turner, der sich zum Kommunizieren oft nur undifferenzierter Grunzlaute bedient, und dem Maler, der mit nicht enden wollender Faszination und Neugier durch die Welt streift, um sich von den Elementen und der Natur inspirieren zu lassen. Gerade die weiblichen Nebenfiguren rahmen die Figur Turner dabei in all ihren Charakterzügen perfekt ein. Das Dienstmädchen als ewig Dienende und Duldende, die verlassene Frau als Anklägerin seiner Egomanie und die Lebensgefährtin als ergebene Verehrerin. Wie beiläufig gelingt es Leigh zudem, ein genaues Bild der georgianischen und früh-viktorianischen Gesellschaft zu zeichnen. Die sinnleere Geschwätzigkeit der oberen Klasse steht in krassem Gegensatz zu Turner, der anfangs noch sarkastischer Beobachter ist, sich dann aber mehr und mehr zurückzieht. Die Bilder des Films sind wie Panoramen groß und anmutig komponiert. Sie huldigen Turners Kunst, ohne sie zu kopieren. Die Musik von Gary Yershon untermalt mit disharmonischen und komplexen Klängen die geheimnisvolle Welt des Künstlers. Sinnlich und geistig lässt Mike Leigh den Zuschauer eintauchen in das Universum eines Genies, der auf Ruhm verzichtete und seine Werke dem britischen Volk vermachte. Ein vielschichtiges und faszinierendes Porträt eines großen Künstlers. Und die Verbeugung eines Meisterregisseurs vor dem Meister des Lichts.
Jurybegründung:
William Turner war einer der bedeutendsten britische Maler seines Jahrhunderts, und Mike Leigh gelingt es hier, ein Bild von diesem Menschen zu zeichnen, dass ihn in seiner widersprüchlich schillernden Komplexität zeigt. Denn Turner war ein schwieriger Mensch, ein Misanthrop, der auf seine Mitmenschen meist nur mit abweisenden Grunzlauten reagierte, ein feindseliges Verhältnis zu seiner getrennt lebenden Frau und seinen Töchtern pflegte und seine Haushältern (auch sexuell) wie ein Objekt behandelte. Zu seinem Vater hatte er dagegen ein inniges Verhältnis und später in seinem Leben war ihm noch eine herzliche Liebesbeziehung vergönnt. Bei all dem kam seine Kunst jedoch immer an erster Stelle, und Leigh zeigt in exemplarischen Szenen, wie die Farben gekauft und angerührt werden, wie Turner dann mit schnellen, manchmal schlagartigen Strichen malt, wie er seine Bilder in einem kleinen Kabinett in seinem Haus präsentiert, sie bei Ausstellungen mit kleinen theatralischen Tricks in die Aufmerksamkeit rückt, sodass die anderen Maler das Nachsehen haben, und wie er sich schließlich in einer der Schlüsselszenen des Films weigert, seine Werke für viel Geld an einen reichen Kunstfreund zu verkaufen, weil er sie dem britischen Volk vermachen will. Leigh zeigt, wie er ständig nach Eindrücken giert, reist, um neue Landschaften, neue Farben, Lichtverhältnisse zu sehen und sie in seinen Skizzen festzuhalten. Einmal lässt er sich sogar wie Odysseus an den Mast eines Segelschiffes binden, um einen Sturm so intensiv wie nur möglich zu erleben. Der Film schlägt einen großen Bogen, indem er von den letzten zwanzig Jahren im Leben des Künstlers erzählt. Einer Zeit, in der seine Bilder immer abstrakter werden, sodass er schließlich als ein Vorläufer des Impressionismus angesehen werden kann, der seiner Zeit weit voraus war. Dem entsprechend wurde seine Kunst immer unpopulärer und die junge Queen Viktoria war in einer der der vielen Gruppenszenen des Films „not amused“ von seiner Arbeit. In solchen Tableaus zeigt Leigh auch en passant ein genaues Bild von den sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen jener Zeit. Bei Treffen der oberen Klassen wird geschwatzt und in den Künsten dilettiert, was Turner sichtlich abstößt, aber erträgt, denn dies sind seine Gönner. Ein Malerkollege ist nicht so beliebt (und talentiert) wie Turner und versinkt unaufhaltsam in die Armut. Leigh zeigt auch, wie Turner auf die Umbruchzeit der Industrialisierung reagiert, wie er auf einem seiner berühmtesten Bilder eine der ersten Eisenbahnen malt oder ein Fotoatelier besucht und sich genau nach den Techniken und Möglichkeiten dieses neuen, ihm Konkurrenz machenden Mediums erkundigt. Wie bei Mike Leigh üblich hat Timothy Spall den Rollencharakter in vielen langen Proben zusammen mit dem Regisseur entwickelt. So wirkt er überhaupt nicht wie eine historische Persönlichkeit, sondern so lebendig und authentisch wie die Charaktere in Leighs Sozialdramen. Es gibt viele imposante und sorgfältig komponierte Landschaftspanoramen in diesem Film, aber Leigh ist so klug, dass er es vermieden hat, seinen Film epigonenhaft im Stil der Bilder von Turner zu fotografieren. Auch mit dieser Einstellung wird er Turner und seiner Kunst gerecht.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)