Es ist der erste große deutsche Spielfilm, der jene wilde Zeit aufarbeitet, die das Gesicht unserer Republik bis heute mitprägt. Das Unterfangen, den Geist von 1968, von Studentenrebellion und Ausbruchslust aus bürgerlichen Zwängen, als Zwei-Stunden-Opus auf die Leinwand zu bringen, scheint in vieler Hinsicht kühn. Und als wären der Herausforderungen nicht genug, ist der Regisseur erst 1969 geboren, die meisten der Darsteller recht unbekannt, die Hauptfigur des Films dagegen eine allgegenwärtige Ikone.
„Den Erinnerungen Uschi Obermeiers frei nachempfunden“ ist der wagemutige Film, der viel riskiert und dabei auf allen Gebieten von einer großen, ja meisterhaften Könnerschaft zeugt. Dies ist großes, intelligentes Breitwand-Kino, voller Schauwerte, bunt und prall, lebendig und politisch, musikalisch und sinnlich, einfach schön. Das Lebensgefühl einer Epoche wird in vielen Facetten präsent, wieder erlebbar für die damals dabei Gewesenen, nachvollziehbar für die Jüngeren.
Darf Geschichtsunterricht so sinnlich sein? Die Zeit von Hippies und Flower Power, Gammlern und Radikalinskis, Groupies und Rockstars, Langhaarigen und verb(r)annten BHs, Kommunen und freier Liebe, von politischer Radikalisierung und Frauenemanzipation, linker Rhetorik und politischer Aktion, von Sex, Drugs & Rock’n Roll, der Sehnsucht nach fremden Ländern und Befreiung von bürgerlichen Zwängen, nach Ausstieg und Reisen in ferne Länder, ein rundum freies und wildes Lebensgefühl, das evoziert der Film, beschönigt dabei Konflikte und Geschlechterkämpfe nicht.
Damals konnte es genügen, in das richtige Auto zu steigen, um das Leben für immer zu verändern. Bei Uschi Obermeier aus einem Münchner Vorort war es ein buntbemalter VW-Bus auf der Landstraße. „Wohin wollt ihr?“, fragt der Fahrer im Film. „Dös is wurscht“, antwortet die trampende junge Uschi und steigt ein. So kommt sie nach Berlin, in die Kommune 1, just zu jenem wohlbekannten Foto der nackten Kommunarden an der Wand. So hat es begonnen, das wilde Leben der Uschi Obermeier…
In schnellen, präzisen Strichen, situativ gut aufgelöst, entführt der Film in seine wilde Zeit, unterhält mit viel Humor und Situationskomik und ganz ohne Zeigefinger. „Das hat Spaß gemacht“, hieß es unmittelbar nach dem Film spontan aus dem Kreis der FBW-Jury - eine ästhetische Kategorie, die so nicht immer benannt wird.
Die Filmdialoge sind ausgefeilt und immer wieder überraschend („Sind Sie Musiker?“ - „Alle Menschen sind Musiker.“), die Darsteller bis in die kleinsten Nebenrollen hervorragend besetzt. Die sensationelle Natalia Avelon als Uschi Obermeier zeigt verblüffende Ähnlichkeit mit ihrem Vorbild, ohne Abziehbild zu sein. Sie glänzt als charaktervolle Darstellerin, ist wandlungsfähig und natürlich, hat Grazie und Eleganz, manchmal auch Naivität und Draufgängertum, ist Mädel vom Lande, begehrtes Fotomodel, liebende Frau, Ikone und Groupie, Freigeist, Einzelkämpferin. Matthias Schweighöfer als etwas linkischer Kommunarde Rainer Langhans gibt dem Film ein wichtiges Entrée, der intensive Alexander Scheer verblüfft als Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards. Als ein wichtiges Kraftzentrum des Films erweist sich David Scheller, der den St. Pauli-Kneipenwirt und Globetrotter Dieter Bockhorn verkörpert. Als Reise- und Lebenspartner von Uschi Obermeier gewinnt und behauptet er verblüffende Präsenz, gibt dem Film viele markante Momente und ist wesentlicher Teil jener traumsicheren Balance, die „Das wilde Leben“ zu solch einem gelungenen Film - zu wirklich großem Kino - macht.
Erstaunliche Sicherheit beweist Regisseur Achim Bornhak beim Führen seiner Protagonisten und in der Inszenierung seiner Settings. Timing und Dramaturgie sind ausgefeilt. Der Film hat Rhythmus und viel Herz, all dies bei einem Debütspielfilm ganz besonders bemerkenswert. Großartig zu nennen ist die Kamera von Benjamin Dernbrecher, elegant der Schnitt und heraushebenswert auch die sorgfältige Ausstattung. Alleine schon Garderobe und Haartracht machen den Film zu einer Zeitreise. All dies aber ordnet sich dem filmischen Erzählen unter, wird nicht ausgestellt.
In einer Szene wird dem italienischen Filmproduzenten Carlo Ponti Referenz erwiesen, die gebührt auch Eberhard Junkersdorf und Dietmar Güntsche, die mit diesem Filmprojekt in Erinnerung rufen, was wirklich gute Produzenten ausmacht: eine gute Nase für Talente und den richtigen Stoff zu haben, dazu den langen Atem, und dann die freie Hand zu lassen für alle künstlerischen Belange. Wahrhaft internationales Format gewonnen hat so „Das wilde Leben“, da wirkt nichts eingezwängt und billig gelöst, nichts halbherzig oder provinziell. Mit seinen Schauwerten geht der lebenspralle Film lakonisch und ohne zu protzen um. Gerne reist man da mit um die halbe Welt, folgt einem interessanten Leben.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)