Als 1980 beim Münchner Oktoberfest ein Attentäter mehrere Menschen tötet, berichtet der Radiojournalist Ulrich Chaussy darüber. Doch schnell stellt er fest, dass bei der Verurteilung des Schuldigen Gundolf Köhler nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Zu dünn ist die Beweisdecke, zu deutlich zeigen sich Fehler in den Ermittlungen der bayerischen Staatssicherheit. Entschlossen klemmt sich Chaussy hinter den Fall und versucht, zusammen mit dem Anwalt der Hinterbliebenen der Opfer, die offenen Fragen zu klären und die Lügen zu entlarven. Doch die Drahtzieher bleiben im Dunkeln und verbergen sich hinter den Mauern der Bürokratie. Das Attentat auf das Oktoberfest war der schwerste Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bis heute wird eine Alleintäterschaft von Köhler angezweifelt, eine Wiederaufnahme des Verfahrens gefordert. Der Filmemacher Daniel Harrich setzt sich in seinem Kinodebüt, zusammen mit Ulrich Chaussy, mit eben jenen offenen Fragen auseinander. Benno Führmann spielt den Journalisten glaubwürdig mit einem Übermaß an Entschlossenheit, die bald zu einer regelrechten Besessenheit wird und sogar seine Ehe gefährdet. Heiner Lauterbach in der Rolle des Hans Langemann, Chef des bayerischen Staatsschutzes, beeindruckt als scheinbar unantastbarer Machtmensch, dem die Fäden, die er zieht, zu entgleiten drohen. Harrich gelingt es, aus diesem realen Fall einen spannenden Thriller zu konstruieren, der den Zuschauer durch seine stringente Dramaturgie gefangen nimmt und bis zum Schluss, gegen jedes bessere Wissen, auf die Wahrheit hoffen lässt. Doch die Wahrheit gehört immer denjenigen, die sie verbreiten. DER BLINDE FLECK ist spannendes Kino, Geschichtsaufarbeitung und Appell an die Justiz in einem. Ein mutiger, wichtiger, großartiger Film.
Jurybegründung:
So fern das Wiesn-Attentat von 1980 scheint, es weist auch Bezüge zu Vorfällen der jüngsten Vergangenheit auf. Daniel Harrichs Politthriller DER BLINDE FLECK stellt sie dar. Als am 26. September 1980 eine Bombe 13 Menschen des Oktoberfests in den Tod reißt, suchen die Behörden fieberhaft nach Tätern und Hintergründen des Anschlags. Unter den Toten befindet sich der Student Gundolf Köhler. Die Ermittlungen ergeben, dass Köhler unmittelbar neben der Bombe gestanden haben muss. Weitere Recherchen beweisen dass Köhler dem engeren Umfeld der rechtsextremistischen ?Wehrsportgruppe Hoffmann‘ zugerechnet werden muss. Kurz darauf präsentieren die Fahnder Köhler als Täter des Oktoberfestanschlags, und zwar, ohne Berücksichtigung seiner Kontakte, als Einzeltäter. Die, bis heute bestehenden, Zweifel an einer Einzeltäterschaft beruhen in der Hauptsache auf den Recherchen des Journalisten Ulrich Chaussy. DER BLINDE FLECK erzählt von dessen Unglauben an der Einzeltäterthese und von seiner stoischen Suche nach einer Erklärung dafür, warum die Ermittlungsbehörden, trotz evidenter Hinweise, an dieser These festgehalten haben. Daniel Harrichs Film beruft sich auf die Buchverlage Chaussys, die der Hörfunkjournalist schon 1989 veröffentlicht hatte. Handwerklich einwandfrei fügt Harrich ?stock footage‘ aus damaligen Fernsehsendungen seiner Spielhandlung bei. Er formt ein extrem dichtes, zeitgenössisches Gesellschaftsbild der Franz-Josef Strauß-Ära, ohne Ablauf und Geschwindigkeit seines Films zu beeinflussen. Das will gelernt sein und ist bei einem Debütkinofilm an sich schon außergewöhnlich. Im Film ist ein gut agierender Benno Fürmann in der Rolle des Journalisten zu sehen. Unaufhörlich arbeitet er an der vollständigen Aufklärung des Attentats, lässt sich weder von Kollegen, noch Justizbehörden davon abbringen und wird schließlich durch Informationen einer undichten Stelle im Verfassungsschutz unterstützt. Aber so dicht die Beweiskette auch scheint, wider erwarten bleiben die Verfassungsorgane bei ihrer ursprünglichen Version von einem Einzeltäter. Sie treten als eigentliche Hüter der Macht auf, die alles daran setzen, sich nicht in ihre Karten hereinschauen zu lassen. Als Konterpart auf Seiten des Verfassungsschutzes stehen Fürmann im Film Heiner Lauterbach und August Zirner gegenüber. Ihr Agieren trägt mit dazu bei, den kafkaesken Irrsinn des Falls offen zu legen. DER BLINDE FLECK ist mehr als ein gewöhnlicher Politthriller. Er wirft einen kritischen Blick auf Struktur und Macht des Verfassungsschutzes und zeigt Fehler auf, die offenbar seitens der Behörden gemacht wurden. Fehler, die bis heute nicht eingestanden wurden und die, wie sich zeigt, auch ein rechtes Terrornetzwerk wie das der NSU existieren lassen können. Als Makel, so hat die Jury diskutiert, mag man erkennen, dass die Figur des Journalisten Chaussy zu glatt und zielgerichtet erscheint. Selbstzweifel, die bei der ungeheuerlichen Tragweite des Falls sicherlich angezeigt wären, lassen sich bestenfalls im letzten Drittel des Films ausmachen, dann auch noch ausgelöst durch dessen Ehefrau. Aber, so gibt die Jury auch zu bedenken, Fülle und Komposition des gut aufbereiteten Materials sind die entscheidenden Triebkräfte des Thrillers, regressive Ansätze würden sich schnell nachteilig auswirken und dem Film seiner Dynamik berauben. DER BLINDE FLECK ist spannend und lehrreich, gleichzeitig aber auch handwerklich mehr als solide Arbeit, sodass ihm die Jury einstimmig das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen hat.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)