Das Fahrrad ist wichtig für Cyril; noch wichtiger aber ist der Vater. Cyril lebt im Kinderheim, hat seit Monaten keinen Kontakt mehr zum Vater, doch er insistiert: Hartnäckig macht er sich auf die Spur, er will sein Fahrrad und seinen Vater und setzt sich mit größtem Trotz, mit Wut, Aufsässigkeit und Eigenwilligkeit durch.
Doch der Vater lebt nicht mehr in der Wohnung, das Fahrrad ist verschwunden; auf der Flucht vor den Betreuern, die ihn zurückholen wollen, klammert er sich in einer Arztpraxis an eine Frau, an Samantha, die ihn ihren Arm festhalten lässt, nur nicht zu sehr, das tut weh. Das ist der Beginn einer märchenhaften Geschichte, die die Dardenne-Brüder in der ihnen typischen sozialrealistischen Inszenierungsweise aus dem traurigen Schicksal von Cyril herausdestillieren. Er will nicht wahrhaben, dass der Vater in abgeschoben hat, sucht ihn beim Bäcker, an der Tankstelle, vielleicht weiß jemand etwas von seinem Verbleib... und hat er tatsächlich sein, Cyrils, Fahrrad an den Nachbarjungen verkauft, hat er diesen Verrat begangen?
Cyril verliert den Vater, ein dramatischer Besuch in dem Restaurant, wo er als Koch arbeitet, wo er sich vor seinem eigenen Sohn verbarrikadiert, besiegelt das Ende. Und den Neuanfang, eine Beziehung zu Samantha, die ihn am Wochenende bei sich aufnimmt, die ihm die Liebe geben kann, die er braucht. Liebe, die er von sich weist, wenn sie sich zu stark zeigt. Cyril ist ein Freigeist, einer, der immer rennt, der immer mit dem Fahrrad flitzt, der auf der Flucht ist und nie ankommen kann, weil er kein Ziel mehr hat im Leben. Weil er Samantha nicht annehmen kann.
Der Junge mit dem Fahrrad ist eine einfache Geschichte, mit Laiendarstellern inszeniert, nur Samantha wird von Cécile de France gespielt, die als Profi heraussticht, so wie ihre Figur der Samantha in der unwirklichen Feenhaftigkeit über den Dingen zu stehen scheint. Bedingungslos gibt sie sich dem Jungen hin, bietet ihm ihr Leben an, ohne ihn zu kennen. Trennt sich von ihrem Freund, um Cyril als Ersatzsohn behalten zu können. Dass er diese Liebe annimmt, aber nie gelernt hat, sie zu erwidern, das macht den Konflikt des Films aus, wenn er einen falschen Freund findet, der ihn ins Kriminelle führt...
Das ist in vielen Szenen durchaus berührend; im Ganzen aber haben die Dardenne-Brüder kein glückliches Händchen in der Feinabstimmung. Der Junge in seinem Trotz und Jähzorn ist klug und genau gezeichnet; wie sich das aber vertragen soll mit der Quasiadoption durch Samantha, bleibt unmotiviert und schleierhaft, weil sich hier verschiedene Ebenen kreuzen, das psychologisch und sozial Präzise mit einer engelhaften Märchenfigur. Dass Cyril nicht einsehen will, dass der Vater ihn verlassen hat, ist einerseits stimmig bestimmt aber andererseits zu penetrant die erste Hälfte des Films, zumal Cyril bei seiner verzweifelten Suche (und in seiner verzweifelten Täuschung in der Wahrnehmung der Verhältnisse) keinerlei Hilfe seiner Betreuer und Erzieher bekommt (weshalb man sich fragt, ob es nicht genau deren Aufgabe wäre, traumatisierten Kindern zu helfen und sie eben nicht alleinzulassen in ihrem emotionalen Elend). Die Dardenne-Brüder wollen viele Fragen offenlassen, wollen nur die Kraft dieses Märchens, dieser bedingungslosen Liebe von Samantha zu Cyril zeigen. Doch der Film ist zu offen, zu unpräzise in der Gestaltung seiner Handlung, seiner Figuren.
Und wenn der Junge einfach mal sein Fahrrad abschließen würde, bliebe ihm eine Menge Ärger erspart...
Fazit: Irgendwo steckt in Der Junge mit dem Fahrrad ein guter, emotional packender Film der aber aus diesem Dardenne-Werk nur punktuell herauslugt.