Die Handlung des Films ist haarsträubend: die Geschichte eines Jungen aus den Slums, der am Ende dank der indischen Version von Wer wird Millionär 20 Millionen Rupien gewinnt; der sein Leben lang seine verloren gegangene Liebe sucht, die er in zartem Kinderalter verloren hat; eine Brudergeschichte von dem Guten, der sich ein reines Herz bewahrt hat, und einem Bösen, der zum brutalen Handlanger eines Gangsterbosses wird. Ein Märchen also, eine Fantasie des Kinos über den Weg vom Tellerwäscher zum Millionär, über ewige Liebe und das Schicksal, dem man folgen muss? Ein Traum-Film, der mit der Realität nichts zu tun hat?
Danny Boyle und sein Autor Simon Beaufoy (Ganz oder gar nicht) wollen genau dies erzählen; und zugleich schaffen sie es, das Hanebüchene, das Klischeehafte zu vermeiden. Wonach sie streben, das ist der Spagat, in mehrfacher Hinsicht. Und der gelingt auch. Weshalb die Golden Globes, die der Film gewonnen hat, ganz in Ordnung gehen.
Da ist der Preis für die Musik. Danny Boyle setzt in seinen Filmen regelmäßig Popsongs ein, um Innerliches auszudrücken, und zeigt dabei ein bemerkenswertes Gespür für den richtigen Ton. Hier nun setzt er einerseits auf politische Aussagen in den verwendeten Songs, unterlegt zudem seinen Film mit der Musik des international bekannten indischen Soundtrack-Komponisten A.R. Rahman die perfekte Melange zwischen westlichen und indisch-asiatischen Klängen, die sich vollkommen einfügt in den Film, der das Leben in Mumbai durch die Folie der Außensicht von Danny Boyles wahrnimmt.
Da ist der Preis fürs beste Drehbuch: Der Film ist in der Tat clever konstruiert. Er verknüpft Verhörsituation mit dem Fernseh-Millionenquiz, um davon ausgehend in Rückblenden eintauchen zu können, die Schlaglichter werfen auf das Leben eines Slumdogs, eines Jungen aus ärmsten Verhältnissen in Bombay, das dann später zu Mumbai wurde. Der in seinem achtzehnjährigen Leben schon einen so reichen Erfahrungsschatz gewonnen hat, dass er zu den Fragen des Quizmasters immer die rechte Erinnerung in irgendeiner Ecke seiner Lebenserfahrung auffinden kann. Wobei Beaufoy geschickt Episoden, die vielleicht wirklich passiert hätten können, umgestaltet in kleine Stücke verschiedener Genres, vom Jugenddrama zum Schelmenroman und Komödie bis zu Gangsterstory. Und damit eine filmische Abstrahierung erreicht, die dem Film zugute kommt, als Folie, die über die Slum-Realität gelegt wird, die englische Ausländer ohnehin nie authentisch hätten beschreiben können. Mit seiner komplexen Struktur, dass die Fragen des Quiz mit den Erfahrungen von Jamal korrespondieren, erreicht der Plot einen schnellen Drive, eine Dynamik, die das Märchenhafte mit der Realität verbindet.
Diesen Drive nimmt Boyle in seiner ebenfalls preisgekrönten Regie auf, er geht mitten hinein in die Stadt mit seinen Darstellern, einer Digitalkamera und kleinem Team, so dass die Passanten oft gar nicht mitbekamen, dass hier ein Film gedreht wird. Und erzeugt zugleich eine visuelle Stilisierung mit ausgeklügelten Kamerawinkeln und hoher Schnittfrequenz. Immer wieder gibt es im jungen Leben von Jamal Verfolgungsjagden, häufig ist er auf der Flucht, mal komödiantisch, mal hoch dramatisch: vor der Polizei, vor einem radikalen Mob, der im Slum wütet, vor einem Kinderfänger, der die Slumkids mit Cola anlockt, um sie zu Bettlern und Nutten zu machen, um sie seelisch und körperlich zu verstümmeln. Dabei spielt Boyle in seinem Slum-Drama immer wieder auf westliche Kultur an, auf Oliver Twist und die drei Musketiere; und weiß doch immer genau die indischen Lebenssituationen einzufangen, die Energie der Mulitmillionenstadt ebenso wie die Bemühungen der Bewohner, wenigstens ein kleines bisschen nach oben zu kommen.
Boyle erzählt im stets richtigen Rhythmus, mal schnell und dynamisch, mal ruhig und romantisch. Und er benutzt die Schauplätze, die Indien bietet, um ein vielschichtiges Bild des Landes zu zeichnen, setzt den Taj Mahal gegen Slums, zeigt Zuglinien, die Lebensadern Indiens, ebenso wie en künstlichen Glamour eines TV-Studios; lässt eine Szene, den dramatischen Wendepunkt im Verhältnis der Brüder Jamal und Salim, in einem Hochhaus-Rohbau spielen, weil das einerseits beeindruckend aussieht, weil es zugleich den Wandel der Stadt repräsentiert, wenn ganz schnell Wolkenkratzer entstehen, wo zuvor der Slum war. Und lässt bei all dem einen Jungen den Traum leben, der Menschen aus allen Schichten vereint vor den Fernsehschirmen im Wunschtraum von einem anderen und hoffentlich besseren Leben.
Lediglich der Preis für den besten Film scheint eher der Eigendynamik des großen Gewinnerfilms bei der Golden Globe-Kür geschuldet zu sein und weniger einer wirklich durchgehenden Qualität des Films. Denn was in der ersten Hälfte mit hohem Tempo, mit komplexer Struktur, mit raffinierter Vermengung von westlicher und östlicher Sichtweise, von Märchen und Realität begonnen hat, lässt sich in der zweiten Hälfte schlicht nicht steigern. So dass eine Art Gewöhnungseffekt einsetzt, so dass der Film nun etwas ruhiger, gleichmäßiger, auch langatmiger erscheint. Zumal die große Liebesgeschichte, die jetzt dominiert, eben doch nur durch den seidigen Faden einer lang vergangenen Kinderfreundschaft motiviert ist, der viele, viele Jahre unterschiedlicher Erfahrungen von Latika und Jamal folgten, die beide, so ist zu vermuten, zu sehr unterschiedlichen Menschen hat reifen lassen. Wodurch das große getanzte Happy End, auf das alles zusteuert, etwas auch für ein Märchen allzu Unwirkliches hat.
Fazit: Danny Boyle erzählt visuell beeindruckend ein Märchen, das in den Realitäten der indischen Slums angesiedelt ist.