Dass das Ganze mehr ist als die Summer seiner Teile, ist zwar eine Binsenweisheit. Manchmal ist es aber auch umgekehrt, ist das Ganze weniger als die Summe seiner Teile. Was nicht nur bemerkenswerter ist, sondern auch bei Eine offene Rechnung der Fall. Denn irgendwie müsste dieser Film einfach (noch) besser, spannender, tragischer, packender sein, betrachtet man die vorzüglichen Einzelelemente und die Qualität ihrer Verarbeitung.
Der Film basiert auf dem israelischen Film Ha-Hov / The Debt vom 2007. Inszeniert hat das US-Remake Shakespeare in Love-Regisseur John Madden; das Drehbuch verfasste Matthew Vaughn, der sich mit selbst Layer Cake, Der Sternenwanderer Kiss-Ass und X-Men: Erste Entscheidung als Filmemacher hervorgetan hat und der bei den drei Letztgenannten auch selbst das Buch mitverfassten. Weiterhin am Skript beteiligt: Vaughns langjährige Co-Autorin Jane Goldman sowie Peter Straghan (Männer, die auf Ziegen starren). Die Darstellerriege der Agenten in ihrer gealterten Version ist wiederum ein Traum für sie: die große Hellen Mirren (zuletzt verschenkt in RED), Tom Wilkinson und Ciarán Hinds.
Aber auch der Nachwuchs als die jungen Pendants kann sich sehen lassen zumindest oder vor allem: Jessica Chastain, zuletzt hierzulande als junge Mutter in Terrence Malicks so berückendem wie vergeistigtem Tree of Life im Kino aufgefallen. Ihre nuancierte Rachel, ein blasses, rothaariges junges Ding, ist als Charakter der Dreh- und Angelpunkt der Story, eine knallhart ausgebildete und doch noch unfertige, noch nicht ausgehärtete Agentin im ersten Außeneinsatz. Wir beobachten, wie sie über die Sektorengrenze kommt, schmal, viel zu ätherisch, leuchtend im der grauen freudlosen Ost-Berliner Kulisse. Sie wird von ihrem Mann abgeholt, beide strahlen sich an doch das ist nur Fassade, David (der hier mit seinem nur einem Gesichtsaudruck ganz passende Sam Worthington) nur der Kollege, den sie zuvor nie gesehen hat.
Zusammen mit dem Team-Anführer, dem dominanten Stephan (Marton Csokas) quartiert sich Rachel in einer dumpfen, großen aber runtergekommen Wohnung ein. Eine Dreiecksgeschichte entspannt sich, ein wenig, dann ist da aber wieder und vor allem anderen: die Mission. Die führt Rachen in die Klinik des als Chirurgen von Birkenau gesuchten Nazi-Arztes Vogel, der nun als Frauenarzt arbeitet. Jesper Christensen, genüsslich-maliziöser Mr. White in den letzten beiden James-Bond-Filmen, verleiht der Figur eine gruselige Präsenz, und ganz zum Schauer-Thriller wird Eine offene Rechnung, wenn sich Rachel in seinen Untersuchungsstuhl setzen muss, dabei ihm nicht nur ihren Unterleib preisgibt, sondern das Medizinmonster des Holocaust sie arglos bis an die seelische Grenzen der Selbstbeherrschung in ihrer notwendigen Maskerade führt.
Weitere packende atemlose Momente folgen: Vogel wird gekidnappt, aber die Flucht in den Westen scheitert, und so sitzen die drei mit dem gefesselten Verbrecher in ihrer dunklen, undichten Großbürgerwohnung. Der Druck wächst; Hüttenkoller, Vogel spukt, wettert, dann wieder: lauert, beginnt kleine perfide Psychospielchen
Das alles ist angenehm zurückhalten und zugleich effektiv gedreht und dosiert. Eine offene Rechnung ist kein Reißer, eher ein Beziehungs- und Psychodrama, glaubwürdig, aufs Wesentliche beschränkt und selbst bei den kleinen Dialogen zu Wünschen und Zielen, der Pflicht und ihrem Auftrag beiläufiger und zugleich vielseitiger als der Spielbergsche Großentwurf des nicht ganz unähnlichen München.
Eine offene Rechung funktioniert bei aller Spannung auf einer zurückgenommenen Ebene da, wo es um Schuld, Verantwortung und verpasste Chancen geht, bei der Frage, ob eine Lüge nicht die bessere Wahrheit ist (aber kann man, darf man mit ihr leben?). Es ist ein Film der Doppelungen und Spiegelungen, nicht nur mit dem sonnenhellen Tel Aviv des Jahres 1997 hier und dem düster-bedrohlichen Ost-Berlin der 1960er dort, nicht nur in und mit den
Figuren und ihren je zwei Darstellern, denen der Nazi-Verbrecher zum ganz privaten, geheimen und bestimmenden Vergangenheits- und Erinnerungsschrecken wird und sie, in gewisser Weise, zum Verräter nicht nur am eigenen Volk macht.
Was hakt nun aber an Eine offene Rechnung, der ja tatsächlich mehr so viel mehr bietet als Potential? Es ist gar nicht mal der Schluss, der mehr schlecht als recht mit einigen Unglaubwürdigkeiten und einer doch etwas abgehangenen Moral funktioniert (selbst hier sind die Mängel so sorgfältig und zugleich souverän gepackt und eingebettet). Eher schon ist es die etwas suboptimal dramaturgische Gliederung: was wann erinnert und erzählerisch nachgereicht wird.
Wahrscheinlich liegt es aber vor allem an einem Zuviel an erzählerisch Hochklassigem. Nicht, dass etwas arg zu kurz käme gleichwohl man mit und vor allem zwischen Mirren, Wilkinson und Hinds mehr Spannung, mehr Präsenz hätte erwarten dürfen. Eher verbergen sich in der erzählerischen Dichte und Fülle von Eine offene Rechnung so viele grandiose Einzelfilme und -stoffe, die sich einfach gegenseitig aufheben. Zumindest die Aufarbeitung der Vergangenheit im Israel der 1990er Jahre und, ihm gegenüber, der Berlin-Teil des Films verlangen und verdienen ein ganz eigenes Recht, einen ganz eigenen Film je für sich und ohne Konkurrenz und der Relativierung aneinander.
Letztlich sind nämlich auch die Probleme, die vor allem Rachel plagen, hier wie da gleichartig, aber doch zu unterschiedlich und voneinander entfernt: Wie banal erscheint der jungen Rachel im Gynäkologenstuhl der zu fangenden Bestie Vogel ihr Ruf und das Verhältnis zu ihrer Tochter 30 Jahre in der Zukunft (wo dann just die Tochter ein Buch über die Heldentat der Mama veröffentlicht)? Und wie fern sind der alternden Rachel mit ihrer Narbe im Gesicht und dem traurigen Leben die ganz konkreten Augenblicksabgründe, -gefahren und -anspannungen der Geheimmission vor längst vergessener Zeit? Eine offene Rechnung kennt keine Helden, aber während das im einen Teil zum notwendigen Bestandteil der Erzählung wird, thematisiert das der andere und nimmt damit Schwung aus der Geschichte.
Eine offene Rechnung ist freilich auch so, immer noch ein großartiger Film, aber als ein strenger geteilter Zweiteiler wäre er sicher phantastisch gewesen.
Fazit: Hochkarätiges und intensives, spannendes und vielschichtiges Agentendrama, das sich mit seiner Doppelgeschichte leider selbst Konkurrenz macht und sich ausbremst.