Vor der Tür steht die Familie und singt „Happy Birthday“. Hinter der Tür ist Mike. Er ist derjenige, der Geburtstag hat. Doch er macht die Tür zu seinem Zimmer nicht auf. Seit Wochen schon nicht. Und während Mikes Mutter Susanne verzweifelt darauf hofft, Mike würde irgendwann zur Vernunft kommen, und ihm jeden Tag Essen vor die Tür stellt, wird Mikes Vater Thomas immer wütender und schreit seinen Sohn durch die Tür an. Und Miriam, Mikes Schwester? Sie sehnt sich nach ihrem großen Bruder und fühlt sich alleingelassen. Allein mit ihren eigenen Problemen, sich als Teenager in ihrer Welt zurechtzufinden. Und allein mit der Familie, die immer mehr an dieser Zerreißprobe zerbricht. Da helfen die Nachrichten, die Mike Miriam durch die Tür schiebt und in denen er aktuelle globale Regenphänomene beschreibt, auch nicht weiter. Aber zumindest stehen diese Nachrichten für die Hoffnung, dass das Band der Familie noch nicht ganz zerrissen ist. So dünn es auch ist. In ihrem Debütfilm 1000 ARTEN, REGEN ZU BESCHREIBEN findet die Filmemacherin Isabel Prahl eine deutliche und eindrucksvolle Bildsprache, die sie mit Symbolen wie dem Regen und der verschlossenen Tür auf kluge Weise unterstreicht. Jede der Figuren wird im Laufe des Films dem Regen begegnen und Türen schließen. Ob äußerlich und wortwörtlich oder auch innerlich und im übertragenen Sinne. Ob Mikes Mutter, die in der Beziehung zu Mikes bestem Freund eine Art Ersatzsohn herbeisehnt und die Bibiana Beglau mit gewohnt kraftvoller Intensität verkörpert: oder Mikes Vater, der mit der Situation überfordert ist und die stille Verzweiflung mit kalter brüllender Wut kompensiert. Bjarne Mädel stellt auch in dieser Rolle einmal wieder unter Beweis, mit wie viel Ausdruck und Stärke er einen solchen Part tragen kann. Dasselbe gilt auch für Emma Bading als Miriam, die unendlich viel Verletzlichkeit und Fragilität an den Tag legt, was die ausgezeichnete Kamera von Andreas Köhler noch zusätzlich spür- und sichtbar macht und das klug gestrickte Drehbuch von Karin Kaci in reduzierte Dialoge packt. Empathisch kann der Zuschauer mit allen Figuren mitfühlen und mit ihnen gemeinsam darauf hoffen, dass trotz der Konflikte jedes Einzelnen auch die Familie erhalten bleibt. Denn am Ende steht der Blick hinter den Regen auf den sonnenbeschienen Horizont. Ein bild- und spielstarkes Filmdebüt.
Im Japanischen gibt es den Begriff Hikikomori. Er bezeichnet Menschen, die sich aus dem sozialen Leben völlig zurückziehen in die häusliche Isolation. Das Familiendrama 1000 ARTEN, REGEN ZU BESCHREIBEN thematisiert einen solchen Fall. Ein Jugendlicher zieht sich komplett zurück und die ihm nahe stehenden Familienmitglieder sind der Situation hilflos ausgeliefert.
Mike, den wir im Film an keiner Stelle zu sehen bekommen, hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Die Eltern behaupten, er sei auf einem Austausch in Ohio. Dabei haben Vater Thomas (Bjarne Mädel) und Mutter Susanne (Bibiana Beglau) seit vielen Wochen keine Antwort. Im Garten verwittert bereits ein Laken mit einer Liebesbekundung. Die Eltern betteln, drohen und verzweifeln, lediglich die jüngere Schwester Miriam (Emma Bading) ahnt, was in Mike vorgeht. Der Familienzusammenhalt wird auf eine harte Probe gestellt, und alle entwickeln eigene Wege, um damit zurechtzukommen.
Subtile Kameraarbeit und ausgeklügelter Musikeinsatz produzieren in 1000 ARTEN, REGEN ZU BESCHREIBEN einen elegischen Sog, wie man ihn im gegenwärtigen Kino selten findet. Die Schauspieler bekommen in diesem Kontext die Möglichkeit ungewohnter Intensität. Vor allem Bjarne Mädel als Vater überzeugt in diesem familiären Horrortrip, der keinen Ausweg lässt. Geschickt werden dabei die Elemente des Regens und die verschlossene Tür als Leitmotive etabliert, die zugleich Metaphern für den Zustand der Familie sein können. Der Regen lässt sich ausweiten zum ‚inneren Regen‘. Der Film vermittelt so konsequent den Prozess der familiären Entfremdung bis hin zum völligen Aussetzen der Kommunikation. Vater, Mutter und Tochter treibt es in die Vereinzelung, obwohl sie sich um das Zusammenwirken bemühen. Die Krise dominiert, alle suchen nach eigenen Lösungen, in der Sexualität, in der Sorge um Ersatzpersonen.
Diesen radikalen Ansatz verdeutlicht der Film plausibel, was einigen Zuschauern den Zugang erschweren könnte. Er ist allerdings fotografisch, musikalisch und schauspielerisch so überragend, dass sogar ein überraschendes Happy End überzeugend in die Dramaturgie passt. Unterstützt wurde die Regisseurin bei ihrem Langfilmdebüt dramaturgisch von Dominik Graf. Dessen Neuerungswille und Experimentierfreude haben auf den Film deutlich abgefärbt.
1000 ARTEN, REGEN ZU BESCHREIBEN basiert auf einer ungewöhnliche Idee, ist originell umgesetzt und künstlerisch konsequent. Die Jury verleiht ihm das Prädikat besonders wertvoll.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)