22. Juli: Dokuthriller von Paul Greengrass über den Umgang eines Landes mit dem Terroranschlag auf eine Ferieninsel am 22. Juli 2011.
Paul Greengrass‘ „22 July“ ist der zweite Film 2018, der die Anschläge vom 22. Juli 2011 in Oslo und der Ferieninsel Utøya behandelt, bei denen ein rechtsradikaler Einzeltäter, Anders Behring Breivik, 77 Menschen tötete. Bereits im Februar war auf der Berlinale im Wettbewerb eine norwegische Produktion zu diesem Thema gelaufen: Darin erzählt Erik Poppe den Angriff auf die Insel in einer einzigen, unerträgliche 75 Minuten währenden Einstellung komplett aus der Sicht eines Mädchens, das inmitten des Chaos nach seiner Schwester sucht. Der Mörder bleibt völlig außen vor, er ist zwei Mal schemenhaft und aus der Entfernung zu sehen, sein Name bleibt ungenannt. Es ist der radikale und gewiss auch problematische Versuch, das Narrativ dem Täter zu entreißen und die Opfer in den Mittelpunkt zu rücken - ein Akt der Heilung in einem Land, das auch sieben Jahre später noch erschüttert ist von dem kaltblütigen Massenmord.
Paul Greengrass‘ Ansatz ist anders, journalistischer, vergleichbar mit seinen Filmen „
Flug 93“ oder „
Captain Phillips„. Die ersten 40 Minuten des für Netflix entstandenen Films, den er mit unbekannten norwegischen Schauspielern besetzt hat, die allerdings alle Englisch reden, ist er beim Attentäter, wie er den Anschlag vorbereitet, einen Lieferwagen mit einer Bombe im Regierungsviertel von Oslo parkt und das Chaos nach der Explosion in der Hauptstadt nutzt, um unbehelligt und ungestört nach Utøya fahren zu können, wo er sich als Polizist ausgibt und in Seelenruhe ein Massaker anrichtet, bis er sich nach 72 Minuten der Polizei ergibt. Greengrass hält die Kamera nicht unnötig drauf, er zeigt sehr nüchtern, was man zum Verständnis der Handlung wissen muss, aber allein die Tatsache, dass er diese Szenen mit einem bedrohlichen Dröhnen auf dem Soundtrack unterlegt, gibt einem bereits ein unangenehmes Gefühl: Reale Terroranschläge als Thriller zu inszenieren, ist kein Angebot, dass man dem Filmpublikum machen sollte. Die folgenden 100 Minuten unterstreichen jedoch, dass Greengrass genau weiß, was er macht - und warum er dem Attentäter soviel Raum gegeben hat. Und auch danach noch gibt. Denn die Nachernte, wie Norwegen, wie die Politik, wie die Gesellschaft, wie die Überlebenden mit der Tragödie umgehen, ist das eigentliche Thema von „22 July“. Man könnte sogar fast sagen, dass Erik Poppes Film ein Teil dieser Thematik ist. Weil es hier ganz explizit darum geht, wie eine Demokratie wehrhaft bleiben kann gegen einen derartigen Angriff. Man sieht Breiviks Anwalt, der trotz Anfeindungen seine Pflicht als Verteidiger tut, obwohl er selbst weder die Taten gutheißt noch die Weltsicht seines Mandanten teilt. Man sieht eine Familie, deren ältester Sohn schwerverletzt überlebt hat, wie sie gemeinsam wieder versuchen, in eine Normalität zurückzukehren. Man sieht den Premierminister, der sich damit konfrontiert sieht, dass nicht genug getan worden war, den Anschlag zu verhindern. Und man ist im Gericht, wo Breivik der Prozess gemacht und sein Wahnsinn entlarvt wird, indem dort auch die Überlebenden zu Wort kommen und ihre Sicht schildern. Das ist nicht nur emotional sehr stark, es ist auch inhaltlich ein starkes Statement in diesem aufwühlenden Film über Zivilcourage und den Mut zum Weiterleben: Die Werkzeuge einer Demokratie funktionieren, wenn man sie nur gemeinsam einsetzt. ts.