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Abschied von gestern: Anita G. flieht 1957 aus Magdeburg in der DDR nach Westdeutschland und versucht vergeblich, Fuß zu fassen. Das Mädchen jüdischer Abstammung findet in Braunschweig einen Job, den sie wegen eines Bagatellvergehens wieder verliert. Anita wird von ihrem Geliebten ausgenutzt, scheitert als Straßenverkäuferin, Zimmermädchen in einem Hotel, wird in ihrer Not kriminell, betrügt und stiehlt. Sie gerät an die falschen Männer...

Handlung und Hintergrund

Anita G. flieht 1957 aus Magdeburg in der DDR nach Westdeutschland und versucht vergeblich, Fuß zu fassen. Das Mädchen jüdischer Abstammung findet in Braunschweig einen Job, den sie wegen eines Bagatellvergehens wieder verliert. Anita wird von ihrem Geliebten ausgenutzt, scheitert als Straßenverkäuferin, Zimmermädchen in einem Hotel, wird in ihrer Not kriminell, betrügt und stiehlt. Sie gerät an die falschen Männer, landet vor Gericht und stellt sich, inzwischen schwanger, der Polizei.

Klassiker des „Neuen Deutschen Films“, der in Erzählweise und Stil neue Wege einschlug. Bittere Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder Bundesrepublik über ein Mädchen aus der DDR, das sich nicht anpassen kann.

Besetzung und Crew

Regisseur
  • Prof. Dr. Alexander Kluge
Darsteller
  • Alexandra Kluge,
  • Günter Mack,
  • Eva Maria Meineke,
  • Hans Korte,
  • Edith Kuntze,
  • Peter Staimmer,
  • Josef Kreindl,
  • Käthe Ebner
Drehbuch
  • Prof. Dr. Alexander Kluge
Kamera
  • Edgar Reitz,
  • Thomas Mauch
Schnitt
  • Beate Mainka-Jellinghaus

Kritikerrezensionen

    1. Die weitherausragende Leistung in der filmischen Gestaltung ist um so bemerkenswerter, als es sich hier um den ersten Spielfilm von Alexander Kluge handelt. Alexander Kluge zeigt einigen Mut zum filmischen Experiment, das allerdings nicht im bloßen Experiment stecken blieb, sondern schon beim ersten Anlauf eine geschlossene filmische Gestalt ergab. Diese innere Geschlossenheit in der Form der filmischen Gestaltung erweist sich vor allem daran, daß Anita G. im Verfolg des Films immer eindringlicher die Einheit eines gesamten Menschenbildes, einer unverwechselbaren Person und eines zwingenden Schicksals gewinnt. Diese Einheit in der zentralen Menschengestalt des Films ist um so beachtlicher, als Anita G. in lauter getrennten, verwehenden Episoden gezeigt wird, die mitunter weit auseinander liegen.

      Alexander Kluge erreichte das überzeugende Menschenbild der Anita G. aus der kühlen Distanz protokollarischer Aufzeichnungen. In keiner Sequenz des Films überschritt er die genau bemessene Distanz, die er durch die eingeblendeten Zwischentitel ausdrücklich noch unterstreicht und dem Betrachter bewußt macht. Gerade diese Distanz der optischen Aufzeichnung zwingt den Betrachter sehr bald zu einer heftigen, sogar auch emotionalen Anteilnahme an dem Schicksal der Anita G. Das ist nicht zuletzt der bildhaften Intensität der einzelnen Episoden zu verdanken.

      Alexander Kluge entwickelt eine sehr differenzierte Gesellschaftskritik, bei der er sich des einschichtigen Verfahrens der bloßen Karikatur oder Polemik völlig enthält. Gerade deswegen wirken manche kritischen Aspekte um so schärfer, ja geradezu boshaft.

      Als Drehbuchautor und Regisseur hat Alexander Kluge sich eine ungewöhnlich schwierige Aufgabe gestellt. Im Mittelpunkt seiner humanen Protokolle steht nämlich eine junge Frau, die sich durch eine nahezu vollendete Passivität und Gleichgültigkeit auszeichnet. Anita G. lebt nicht, sondern wird von ihrer Umwelt gelebt. Das ist das Ergebnis ihres „Gestern“. Bereits in der erste Sequenz klingt dieses Motiv an, wenn der Richter mehrmals sagt, daß gewisse Verhaltensweisen der Anita G. jeder normalen Lebenserfahrung widersprechen.

      Nun ist freilich auch die Reaktion der gesellschaftlichen Umwelt der Anita G. in der Bundesrepublik weitgehend durch Gleichgültigkeit charakterisiert. Man spürt das bis hin zu den verschiedenen Liebesaffären der Anita G.. So kommt es auch von der Gegenseite her kaum zu Aktionen. Um so stärker verbreitet sich um die junge Frau aus Leipzig eine schließlich vollendete Einsamkeit, die Anita G. als einen normalen, unvermeidbaren Zustand auf sich nimmt. Sie scheint unter ihrer Vereinsamung kaum zu leiden. Desto tiefer trifft der Schmerz den Betrachter. Alexander Kluge notierte in seinen optischen Aufzeichnungen einen Zustand, der in allen Variationen beiläufiger Lebensepisoden sich letzthin gleich bleibt.

      Bei dieser Sachlage war die Regie natürlich besonders abhängig von einer sehr präzise disponierenden Kameraarbeit, denn der Film hat seiner ganzen Anlage nach keine andere Mitteilungsmöglichkeit als das Bild. Das beweisen gerade die spärlichen Dialoge, die meist nicht einmal der Information über die jeweiligen Episode dienen. In Edgar Reitz hat Alexander Kluge einen ebenbürtigen Kameramann gefunden. In dem merkwürdigen Grauton hat Reitz das Bild vollends auf den inneren Befund der Anita G. eingefärbt. Vor allem die Großaufnahmen sprechen für den optischen Spürsinn der Kameraarbeit. Aber auch die genau arrangierten Interieurs wurden von der Kamera präzise und eindringlich präsentiert. Dabei haben Alexander Kluge und Edgar Reitz sich aller jener Symbolismen enthalten, die heute im Interieur des Films so beliebt sind.

      Es gehört zum Stil dieses Films, daß er ohne Bruchstellen auch mit annähernd dokumentarischen Szenen aus der gegenwärtigen Realität durchsetzt werden konnte, wie etwa bei dem Gespräch mit dem hessischen Generalstaatsanwalt oder bei den Auftritten von Frankfurter Universitätsprofessoren. Hier zeigte Kluge eine bemerkenswerte Fähigkeit der Menschenführung. Fast fühlt man sich zu dem Urteil versucht, daß die Frankfurter Professoren zu den besten Schauspielern dieses Films zählen.

      Nicht von ungefähr verzichtete Kluge für die Hauptrolle seines ersten Spielfilms auf eine Berufsschauspielerin. Er fand in Alexandra Kluge eine junge Frau, die seinen Intentionen auf das Komma genau zu folgen vermochte. Alexandra Kluge hat durch alle Bewußtseinsschichten der Anita G. in den vielen, anscheinend nur beiläufigen Episoden eine einheitliche Menschengestalt behutsam aufgebaut. Dabei bewahrte sie sich eine erstaunliche Spontanität der persönlichen Gegenwart. Es ist erfrischend, im Film endlich einmal wieder einem unverstellten Menschengesicht zu begegnen, einem Menschen, der nicht hergerichtet ist, sondern aus einem Talent zur Einfühlung eine ganz und gar glaubwürdige Menschengestalt zu bilden vermag. Auch sonst hat Alexander Kluge mit großer Umsicht Schauspieler ausgewählt, die in der Einbildungskraft des Publikums noch nicht vorbelastet sind.

      Hohe Anerkennung verdient die Akzentuierung der Begleitmusik. Man braucht nur an das einprägsame Tangomotiv für die Rückblenden in die Vergangenheit, in das „Gestern“ der Anita G., zu erinnern. Die Bezeichnung „Rückblende“ trifft hier allerdings nicht zu, denn die sogenannten Rückblenden gehören in diesem Film genau so zur Gegenwart wie die verschiedenen Episoden der Anita G. in der Bundesrepublik. Der Ablösungsprozeß zwischen gestern und heute ist ja das unterströmige Thema in den Zustandsprotokollen dieses Films.

      Gerade hier macht sich die einzige Schwäche des Films bemerkbar. Es ist Alexander Kluge nicht hinreichend gelungen, das „Gestern“ zwingend gegenwärtig zu machen. Daher dürften sich angesichts der Vergangenheit der Anita G. gewisse Schwierigkeiten beim Verständnis des Films ergeben, Schwierigkeiten vor allem für junge Menschen, denen dieser Film besonders empfohlen werden sollte. Die merkwürdige Mentalität der Anita G. wird aber nur begreiflich, wenn man ihr „Gestern“ kennt. Erst dann erfaßt man ganz den „Abschied“, der vorerst im Gefängnis durchlebt wird, und jene stumme, peinigende Frage nach dem „Morgen“ der Anita G.

      Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)
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