Alles beginnt mit einem Blick, als Walter Agnes in der Bibliothek begegnet. Walter ist gescheiterter Romancier, der nun Sachbücher schreibt, Agnes ist Physikstudentin. Im Bus sehen sich beide wieder. Walter traut sich, spricht Agnes an. Eine Unterhaltung über den Sinn des Lebens entspinnt sich, aus einem Gespräch wird ein Kuss, eine Nacht, eine Beziehung. Agnes bedrängt Walter, doch wieder einen Roman zu schreiben. Am besten sollte es ein Roman über die Liebe sein. Über ihre Liebe. Über sie. Walter zögert zunächst, doch fühlt sich dann inspiriert und beginnt zu schreiben. Doch langsam verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. AGNES von Johannes Schmid ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Peter Stamm. Ganz genau und sorgfältig transportiert der Film die Tonlage des Romans auf die Leinwand, die Dialoge sind bewusst literarisch und dienen dazu, die Distanz zwischen Situation und Betrachter aufrechtzuerhalten. Aufgefächert wird die Faszination eines Beziehungsdramas, auch dank der hervorragenden darstellerischen Leistung von Odine Johne und Stephan Kampwirth. Kampwirth als Walter ist eine gebrochene und gequälte Künstlerseele par excellence. Stetig zweifelt er an sich selbst, an seinem Können, an seinen Wünschen. Erst Agnes scheint ihm einen neuen Lebenssinn zu geben, er verliert sich ganz in seiner Muse und der Besessenheit, ihre Geschichte als perfektes Liebesdrama zu erdenken und niederzuschreiben. Doch er ist sich stets im Unklaren, wie viel echte Gefühle hinter der Beziehung zu Agnes stehen. Die Person aus Fleisch und Blut wird zum Objekt, er benutzt sie und merkt es nicht einmal. Agnes wird zu einer Spiegelung der eigenen Wünsche. Es gelingt Odine Johne auf beeindruckende Weise, all diese Aspekte in ihrem Spiel zu vereinen. Elfengleich durchschreitet sie die Szenerie, scheint der realen Welt entrückt und lässt in ihrem Gesicht Unschuld, Entschlossenheit, Verliebtheit und Verzweiflung gleichermaßen durchscheinen. So wird sie auch zur Projektionsfläche für den Zuschauer, der verunsichert wird, was nun real und was ein Teil der von Walter erdachten Geschichte ist. Geschickt arbeiten Schmid und sein Kameramann Michael Bertl mit Licht und Farbe, um die perfekt arrangierten Sequenzen voneinander abzugrenzen. Auch werden Szenen in Rückblende wiederholt, aus anderen Blickwinkeln gefilmt, mit alternativen Enden erzählt. So entsteht ein den Zuschauer stetig herausforderndes Vexierspiel. Ein faszinierender und hochintelligenter Film über die Wahrheit in der Fiktion. Und die Wahrhaftigkeit der Liebe.
Jurybegründung:
Johannes Schmids Film ist eine Variation der selbstreflexiven Erzählung, d. h. es gibt mehrere Erzählebenen, mittels derer das Erzählen selbst thematisiert wird. Der Sachbuchautor Walter lernt die Physikstudentin Agnes kennen und beginnt danach eine Erzählung zu schreiben, in der es um seine Begegnung mit Agnes geht. Zunächst kommt es zu Abweichungen zwischen den als real erscheinenden Ereignissen und Walters Erzählung. Diese nehmen zu, bis der Film sogar klare metaleptische Züge annimmt, d. h. narrative Transgressionen vollführt, die im Zuschauer Ungewissheit über den Status der Erzählung erzeugen. Dieses Spiel mit Realität und Fiktion gelingt dem Film auf beeindruckende Weise, ohne dabei zu verkopft zu geraten. Natürlich könnte man einwenden, dass wieder einmal eine Frau das Mysterium ist, von dem der Mann fasziniert erzählt und es ließe sich auch durchaus einwenden, dass der von Stephan Kampwirth gespielte Schriftsteller nicht zwingend eine hochinteressante Figur ist, während Agnes facettenreich charakterisiert wird und von Odine Johne kongenial und furios verkörpert wird. Doch das tut dem Film nur bedingt einen Abbruch.
Das liegt auch daran, dass AGNES insgesamt ein klar erkennbares ästhetisches Gesamtkonzept erkennen lässt. Die Großstadt wird durch die subtile Beleuchtung und die dichte Rauminszenierung zu einem urbanen Raum des Unbehaustseins, in dem sich die Liebesgeschichte abspielt wie in einer Parallelwelt. Diese Boy-Meets-Girl-Geschichte ist behutsam inszeniert, wie auch die Szenen körperlicher Liebe, in denen ästhetisch anspruchsvoll mit Kaschierungen gearbeitet wird, so dass sie nicht voyeuristisch geraten. Kamera und Montage sind trotz des klar erkennbaren Stilwillens unaufdringlich und weisen ein hervorragendes Timing auf, das stellenweise auch mit Überraschungen aufwarten kann, also von Konventionen gewinnbringend abzuweichen versteht. Solche Momente, in denen etwa die Montage gezielt auffällig eingesetzt wird, wirken aber ebenfalls nicht aufdringlich. AGNES ist ein ästhetisch homogenes und erzählerisch raffiniertes Verwirrspiel, das zum wiederholten Schauen einlädt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)