Fünf Jahre hat Agnieszka im Gefängnis in Polen verbracht. In diesen Jahren hat sie gelernt, hart zu sein, ihre Gefühle zu unterdrücken und sich durchzuschlagen. An ihrem ersten Tag in Freiheit kehrt sie zurück nach Hause, stiehlt dem schlafenden Vater Geld, nimmt Rache an dem, der sie verraten hat und verspricht ihrem Bruder, ihn bald zu sich zu holen. Dann steigt sie in einen Bus und fährt nach Deutschland. In München begegnet sie „Madame“. Die ältere Dame betreibt einen Domina-Escort-Service. Agnieszka braucht Arbeit und Madame nimmt sie unter ihre Fittiche. Doch eines Tages lernt sie den 16-jährigen Manuel kennen, der sich in sie verliebt. Agnieszkas zunehmend inniges Verhältnis zu ihm gefällt Madame überhaupt nicht. Und als dann noch ein Kunde eine Grenze überschreitet, beschließt Agnieszka, dass es Zeit ist, selbst eine Grenze zu ziehen. Sobald sich zu Beginn des Films die Gefängnistore öffnen und Karolina Gorczyca als Agnieszka zu sehen ist, ist der Zuschauer gefangen von ihrem charismatischen Wesen. Den ganzen Film hindurch spricht sie wenig, kommuniziert mehr mit Gesten, ihrer Mimik und ihrer Haltung. Man spürt die innere Anspannung der Figur und die Konflikte, die sie mit sich herumträgt. Eingehüllt in Jacke, Mütze und eine steinerne Miene, bewegt sich Agnieszka in München, wo sie sich nach und nach Madame öffnet. Hildegard Schmahl verkörpert diese dunkle, fast dämonische Diva mit Größe und starkem Ausdruck. Wie zwei Raubtiere im Ring umkreisen sich die beiden Figuren in kammerartig inszenierten Szenen. Herausragend die Kameraarbeit, die sowohl enge Räume als die Leere der Großstadt zeigt. Mit AGNIESZKA als seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm ist Regisseur Tomasz E. Rudzik ein unglaublich spannendes und bewegendes Drama gelungen, in dessen Zentrum das kraftvolle und beeindruckende Spiel von Karolina Gorczyca steht. Ihre Darstellung als Agnieszka wirkt im Betrachter auch nach Filmende lange nach. Ein starker Film.
Jurybegründung:
Agnieszka bewegt sich wie eine Kämpferin. Ihre sportlich praktische Kleidung trägt sie wie eine Rüstung und die große Mütze sitzt auf ihrem Kopf wie ein Helm. Vor allem mit ihrer Körpersprache macht Karolina Gorcyca in der Titelrolle deutlich, wie eine fünfjährige Haftstrafe eine junge Frau prägen kann. Agnieszka hat das Zuschlagen gelernt. Aus Liebe ist sie für ihren damaligen Freund ins Gefängnis gegangen. Nach der Freilassung führt einer ihrer ersten Wege zu ihm und in einer brutalen Szene, die der Regisseur nur indirekt, dadurch aber nicht weniger wirkungsvoll inszeniert, macht sie ihm und den Zuschauern deutlich, dass sie sich nichts mehr gefallen lässt. Tomasz E. Rutnik arbeitet mit harten realistischen Bildern, mit denen er nicht nur die Charaktere, sondern auch ihr Milieu authentisch und mit einer fast dokumentarischen Präzision darstellt - sei es die ärmlich triste Familie von Agieszka, in der sie ihren kleinen Bruder vorerst zurücklassen muss oder die verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und Wohngebiete von München, wo Agnieszka nach ihrer Flucht aus Polen bald von einer alten Frau, die „Madame“ genannt werden will, wie eine verlorene Tochter aufgenommen wird. Bald arbeitet sie als Escort Domina - also in einem Job, für den ihre aggressive Wachsamkeit sich ideal eignet. Sie scheint sich perfekt einzufügen und kann auch gut mit der Eifersucht des Sohns der alten Frau umgehen, doch dann verliebt sich ein 16jähriger Junge aus gutem Hause in sie, und schnell zeigt sich, dass Madame dieses Verhältnis nicht dulden kann. Agnieszka ist zwischen der reinen und bedingungslosen Liebe des 16jährigen und dem auf Gewalt und Verrat basierenden Verhältnis zu Madame hin und her gerissen. Eine der Stärken des Films ist das Drehbuch von Rutzik, der ein Talent dafür hat, originelle Szenen zu erfinden, in denen sich die Persönlichkeiten und Gefühlszustände der Protagonisten oft schlagartig offenbaren. Als Regisseur kann er vor allem in seinen Stadtbildern poetische Stimmungen schaffen, aber es gelingen ihm auch hochdramatische Szenen, wobei er Gewalt und Sexualität nicht plakativ darstellt, sondern erfindungsreich andeutet. Mit der in allen Rollen perfekt wirkenden Besetzung, der einfühlsamen Schauspielerführung, der atmosphärischen Kamera und der angenehm unaufdringlichen Filmmusik ist AGNIESZKA wie aus einem Guss. „Besonders wertvoll“ auf allen Ebenen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)