Mit ihrem Debutfilm AJAMI ist den israelischen Regisseuren Scandar Copti und Yaron Shani ein Gesellschaftsporträt aller erster Güte gelungen. Episodisch erzählen sie kleine Alltagsgeschichten und große bewegende Schicksale israelischer Einwohner unterschiedlichster Herkunft, Religion und Tradition und verknüpfen diese im Laufe des Filmes eng miteinander. Gleichzeitig schafft der Film ein Grundverständnis für die Hintergründe und Zusammenhänge der schier unlösbaren Konflikte im Nahen Osten. Zutiefst beeindruckend ist auch die Grundhaltung des Filmes, der an keiner Stelle versucht Partei zu ergreifen oder Schuldige zu finden. Durch seine geschickte Erzählstruktur und eine grandiose Montage erzielt der Film eine nachhaltige Wirkung und atmosphärische Dichte. Der Einsatz von Laiendarstellern ist ein absoluter Glücksgriff, der entscheidend zur Authentizität und starken Wirkung beiträgt. Ein vielschichtiger Film, der mit großer Menschlichkeit von einer unfassbar großen menschlichen Tragödie erzählt.
Jurybegründung:
In Ajami, einem Stadtteil von Jaffa, der alten Hafenstadt in der Nähe von Tel Aviv leben Angehörige aller monotheistischen Religionen zusammen: Juden, Christen, Muslime und Kopten. Sie sind Palästinenser, Israelis, Beduinen. Sie sind arm, arbeitslos, krank, reich, korrupt, machthungrig. Sie sind Söhne, Väter, Mütter, Töchter. Der Film AJAMI stellt sie uns als Nachbarn vor, als Freunde, als Feinde, als Fremde, als Trauernde, als Liebende, als Verlorene.
Formal findet er die Form der griechischen Tragödie in fünf Akten. Die Schicksale der Hauptfiguren Omar, Malek, Nasri, Dando, Binj erfüllen sich im fünften Akt auf tragische Weise. Doch bis dahin kämpfen sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln um ihre Existenz. Dass diese Mittel nicht nur korrekt und sauber sind, erklärt sich aus ihrer besonderen Situation. Omar, der in den Fokus einer reichen christlichen Familie geraten ist, muss um sein Leben fürchten. Um der Bedrohung zu entkommen und sein Leben zu retten, sucht und findet er im Vater seiner Freundin Hadir einen ‚Paten‘, der ihm rät, für seine Schuld zu bezahlen. Eine Verhandlung zwischen den Parteien ergibt eine Geldstrafe für Omar, die er niemals wird begleichen können. So erscheint ihm die Idee, Drogen zu verkaufen als die einzige Möglichkeit, seine Schulden bezahlen zu können. Ähnlich ergeht es Malek, der als Illegaler im Restaurant von Hadirs Vater arbeitet und seiner sterbenskranken Mutter helfen will. So werden beide zu naiven Dealern und treffen einen Käufer in einer Tiefgarage, ohne zu ahnen, dass ihnen hier eine Falle gestellt wird. Besonders Nasri, der junge Bruder Omars, der immer wieder von schrecklichen Vorahnungen erfüllt ist, versucht, seinen Bruder zu warnen und zurückzuhalten. Ihm bleibt nur, sich beim Zeichnen von Comics auszudrücken, Trost zu finden und sich vom Geschehen abzulenken. Bis er schließlich keinen Ausweg mehr sieht.
Der Film greift in kongenialer Weise diese Szene mehrmals auf, um sie erst am Schluss des Films aufzulösen. Dieser dramaturgische Kniff einer Zeitelipse trägt auch zur erhöhten Spannung bei, die entscheidende, schicksalhafte Situation wird immer wieder zitiert, bis sie dann im fünften und letzten Akt zu Ende geführt wird. Hier erfüllt sich das Schicksal der ohne Schuld schuldig Gewordenen.
Die beiden israelischen Regisseure arbeiten in AJAMI mit Laienschauspielern, Darsteller durch deren Spiel der Film eine zusätzliche Wahrhaftigkeit erhält. Die Kamera bleibt meist nah am Geschehen und an den Personen. Der dokumentarische Stil des Films, der Einsatz der Handkamera und die manchmal klaustrophobisch anmutenden Szenen verstärken den Eindruck von Enge, Bedrängnis und Ausweglosigkeit.
Der Mut der Produzenten, für die deutsche Seite ein Grieche aus Berlin: Tanassis Karathanos, diesen Film federführend zu übernehmen und des Israelis Mosh Danon als Koproduzent, hat seine Bestätigung bereits durch zahlreiche Auszeichnungen auf internationalen Festivals gefunden. Die FBW-Jury war von diesem herausragenden Film ebenso überzeugt und verbindet ihr einstimmiges Votum mit dem Wunsch, dass er viele Zuschauer finden möge, die sich eine Vorstellung von der besonderen Situation der Menschen im Brennpunkt des Nahen Ostens machen werden.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)