Alice: Zeit des Aufbruchs: Der Zweiteiler mit einer famosen Nina Gummich ist ein fesselndes Porträt der jungen Alice Schwarzer.
Zeit des Aufbruchs: Der Zweiteiler mit einer famosen Nina Gummich ist ein fesselndes Porträt der jungen Alice Schwarzer.
Vermutlich ist keine Person der jüngeren Zeitgeschichte derart über Jahrzehnte hinweg angefeindet worden wie Alice Schwarzer, die am 3. Dezember achtzig Jahre alt wird; und das keineswegs nur von den Männern, deren traditionelles Rollenbild sie in frage stellte, sondern bis heute auch aus den Reihen der Frauenbewegung. Vor einigen Wochen hat Sabine Derflinger der Feministin mit dem dokumentarischen Kinoporträt „Alice Schwarzer“ ein Denkmal gesetzt. Der Film grenzte an eine Huldigung, weil er kritische Aspekte weitgehend aussparte. Das Ziel, den Menschen hinter den Kontroversen zu zeigen, hat die Österreicherin nicht erreicht, weil sich Schwarzer nicht ungeschützt in die Seele blicken ließ. Diese Lücken schließt nun ein ARD-Zweiteiler mit dem schlichten Titel „Alice“.
Selbst wenn es sonst keine Einschaltgründe gäbe: Schon allein Nina Gummich ist jede der 180 Minuten wert. Typische Gesten lassen erahnen, dass sie sich einiges von dem umfangreichen Bewegtbildmaterial über Schwarzer angeschaut hat, aber die Sprechweise zum Beispiel wirkt nie einstudiert, obwohl die Schauspielerin gerade aus dem Off, wenn sie aus Briefen oder Artikeln zitiert, sehr ähnlich klingt. Ihre Alice ist dennoch kein Imitat, sondern das Ergebnis eines Aneignungsprozesses. Dank ihrer kraftvollen Ausstrahlung hat Gummich zudem das nötige Format, um einer derartig raumgreifenden Persönlichkeit gerecht zu werden und sie mit jener jugendlichen Energie zu versehen, die nötig ist, um die Welt aus den Angeln zu heben.
Das Drehbuch von Daniel Nocke beschränkt sich auf Schwarzers Aufbruchjahre: 1964 ist sie mit Anfang zwanzig als Au-pair in Paris und wird von den Anfängen der französischen Frauenbewegung infiziert. Später kehrt sie als Korrespondentin zurück. Als 1971 über dreihundert zum Teil prominente Französinnen öffentlich bekennen, sie hätten abgetrieben, importiert sie diese Initiative nach Deutschland. Berühmt wird sie jedoch erst durch ihr im Februar 1975 vom WDR übertragenen Streitgespräch mit Esther Vilar, die in ihrem Buch „Der dressierte Mann“ die steile These aufgestellt hatte, nicht die Frauen, sondern die Männer seien die eigentlichen Unterdrückten. Knapp zwei Jahre später erscheint die erste Ausgabe der „Emma“.
Der von Nicole Weegmann sehr souverän inszenierte Film hangelt sich jedoch keineswegs von einem biografischen Eckdatum zum nächsten. Im Vordergrund steht der Kampf um Gleichberechtigung, zumal die Journalistin immer wieder selbst erlebt, was es heißt, sich als Frau in einem damals typischen Männerberuf zu tummeln. Viele dieser Szenen sind allerdings auch dank der prägnanten Besetzung der prominenten Pressepersönlichkeiten - David Rott als „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein, Sven-Eric Bechtolf als „stern“-Chef Henri Nannen, Hannes Wegener als „konkret“-Herausgeber Hermann L. Gremliza - sehr unterhaltsam. Nicht minder sehenswert ist Katharina Schüttlers Gastauftritt als Esther Vilar. Emotionales Gegenstück zum politischen Engagement ist Schwarzers Beziehungsleben: In Paris verliebt sie sich in den sympathischen Studenten Bruno (Thomas Guené), den sie schließlich wegen einer Frau verlässt.
Jenseits von Schwarzers Bedeutung als historische Figur ist „Alice“ in erster Linie ein fesselnder Film über eine selbstbewusste Frau, die ihrer Zeit weit voraus und mit ihrer großen Klappe die pure Provokation für eine in den Traditionen verkrustete Gesellschaft war. Auch deshalb taugt sie nach wie vor als Vorbild. Der Zweiteiler hat ohnehin nicht zuletzt wegen der aktuellen Kontroversen um die Abtreibungsgesetze in Polen und den USA gerade auch für ein junges Publikum viel zu bieten. Anders als Derflinger zeigt das Drama zudem sehr persönliche Seiten. Das gilt neben der liebevollen Beziehung zum Großvater (Rainer Bock in einer Minirolle) vor allem für die gelegentlichen melancholischen Anwandlungen. Darüber hinaus ist der Zweiteiler auch als Schilderung dieser Zeit des Aufbruchs sehenswert, zumal Weegmann immer wieder zeitgenössisches Material einstreut.
Tilmann P. Gangloff.