Amelie ist sauer. Auf ihre Eltern, die sich getrennt haben. Auf ihre Mutter, die, wenn die 13-Jährige das Wochenende bei ihrem Vater verbringt, in ihrem Zimmer Wäsche aufhängt. Und auf ihre Krankheit, die ihr das Leben vermiest. Denn Amelie leidet unter starkem Asthma und kann ohne ihr Notfallspray nirgendwo hingehen. Geschweige denn springen oder rennen. Als ihre Eltern Amelie in eine Lungenklinik nach Südtirol bringen, ist Amelie auch darüber alles andere als glücklich. Bereits nach kurzer Zeit verschwindet sie nachts und beschließt trotzig, es nun allen zeigen zu wollen und den höchsten Berg der Gegend zu besteigen. Ganz allein. Nun gut, nicht ganz allein. Denn der 15-jährige „Kuhherdenmanager“ Bart begleitet sie nach oben. Am Anfang kann Amelie Bart gar nicht ausstehen. Und auch Bart ist nicht begeistert von der giftspritzenden Nervensäge. Doch so eine Wanderung führt manchmal zu ungewöhnlichen Freundschaften. Die Titelheldin von AMELIE RENNT macht es dem Zuschauer zunächst nicht einfach, sie ins Herz zu schließen. Denn Amelie teilt gerne verbal aus und ist auch sonst kein Sonnenschein. Und doch spürt man als Zuschauer im Laufe des Films, auch dank der großartigen Darstellung von Mia Kasalo, wieviel Verletzlichkeit hinter der rauen Fassade des Mädchens steckt. Insgesamt gelingt dem Film in der Inszenierung von Tobias Wiemann und dem Drehbuch von Nadja Brunckhorst die perfekte Balance von Leichtigkeit und Tiefe. Dies zeigt sich auch in den spitzfindigen Dialogduellen und den berührenden Momenten zwischen Amelie und Bart, gespielt von Samuel Girardi. Mit seiner verschmitzt selbstbewussten Art wickelt dieser nicht nur Amelie, sondern auch das Publikum um den Finger. Bis in die Nebenfiguren ist der Cast bestens zusammengestellt. Susanne Boormann und Dennis Moschitto sind Amelies besorgte Eltern, die ihre Tochter aufrichtig lieben, doch mit der Problematik überfordert sind. Und auch Jasmin Tabatabai als Klinikdirektorin kann gegen Amelies Sturheit wenig ausrichten. Ein heimlicher Star des Films ist Shenia Pitschmann als Amelies Bettnachbarin Steffi. Mit ihrer naiv-natürlichen Art hat sie nicht nur die Lacher auf ihrer Seite, sondern gewinnt die Herzen aller Zuschauer im Sturm. Neben dem großartig fotografierten Abenteuer eines Bergaufstiegs erzählt AMELIE RENNT auch auf authentisch-nachvollziehbare Art und Weise die Geschichte einer chronischen Krankheit. Doch werden die sich wiederholenden Asthma-Anfälle Amelies nicht überdramatisch inszeniert, sondern eher still und doch intensiv. Dank der Kamera und einer gelungenen Montage ist man in solchen Momenten ganz nah bei Amelie und spürt mit ihr die Krankheit, die ihr Leben einschränkt. Doch wenn Amelie am Ende des Films auf dem Berg steht und vom Gipfel auf das Tal schaut, spürt man, dass Amelie alles schaffen kann, was sie sich vornimmt. Sogar springen oder rennen. Eine Botschaft, die auch die jugendliche Zielgruppe dazu animieren kann, ungeachtet jeder Einschränkung an die Erfüllung großer Träume zu glauben. AMELIE RENNT ist mit seiner berührenden Geschichte und seinen starken Charakteren der beste Beweis für kurzweiliges, einfühlsames und originelles deutsches Kinderkino.
Jurybegründung:
Die 13-jährige Amelie empfindet es als eine empörende Ungerechtigkeit, chronisch krank zu sein. Und diese Wut richtet Amelie, die an schwerem Asthma leidet, sowohl gegen die anderen Menschen wie auch gegen sich selbst. So sind ihre Eltern hilflos, weil der sture Teenager sich nicht von ihnen helfen lassen will, denn sie selber verweigert sich selbstzerstörerisch jeder Heilung und sucht nach immer gefährlicheren Grenzerfahrungen. Gerade weil Mia Kasalo sie als eine auf den ersten Blick alles andere als sympathische Heldin spielt, dürften pubertierende Jugendliche, von den ja viele im Hader mit der Welt leben, sich schnell mit ihr identifizieren. Und die Drehbuchautorin Natja Brunckhorst sowie der Regisseur Tobias Wiemann sind so klug, die Geschichte weitgehend aus ihrer Perspektive zu erzählen. Nach einem Streit mit ihrer Mutter hat Amelie einen lebensbedrohlichen Anfall, nachdem ihre getrennt lebenden Eltern beschließen, sie gemeinsam in eine Klinik nach Südtirol zu fahren, die sich auf chronisch kranke Kinder spezialisiert hat. Doch bei der ersten Gelegenheit reißt sie aus und läuft in die Landschaft - und zwar bergauf, was für sie besonders gefährlich ist. Schon bald muss sie aus den Stromschnellen eines wilden Gebirgsbaches gezogen werden, und ihr Retter ist der 15-jährige Bart, der ihr von den Feuern auf den Berggipfeln erzählt, die bald entzündet werden und Kranke heilen sollen, die über sie hinwegspringen. Die beiden begeben sich auf eine Art Pilgerwanderung auf den Berg, während die Erwachsenen im Tal Suchaktionen starten und das Schlimmste befürchten. Der Film trifft genau den Ton, in dem die Jugendlichen untereinander und mit Erwachsenen (großer Unterschied) reden und mit dem gleichen Einfühlungsvermögen wird auch das widersprüchliche, provokante und radikale Verhalten von Amelie dargestellt. AMELIE RENNT ist spannend erzählt und mit Amelies Zimmernachbarin Steffi hat der Film eine zugleich anrührende und komische Nebenfigur, die mit einem running gag („nicht erschrecken…) für einige schöne und (angesichts der chronisch schlechten Laune der Heldin) sehr willkommene Lacher sorgt. Der Film ist bis in die Nebenrollen (Jasmin Tabatabai als Klinikärztin) glänzend besetzt und Mia Kasalo gelingt es in der Titelrolle, eine subtile Balance zwischen Aggressivität und Schwermut, Trotz und Verletzlichkeit, Todesverachtung und Lebenshunger zu halten. Ein im besten Sinne des Wortes unbequemer und dennoch unterhaltsamer Film.
FBW-Jugend-Filmjury:
(www.jugend-filmjury.com)
Jeder Mensch rennt vor etwas weg: Verpflichtungen, Erinnerungen, Gefühlen, Ängsten. Jeder zehnte Mensch ist von Asthma betroffen. So auch das sture Berliner Stadtkind Amelie. AMELIE RENNT, obwohl sie sehr schlecht Luft bekommt. Sie rennt die ganze Zeit aus Angst vor sich selbst und ihrer Verantwortung. Da sie bei einem heftigen Anfall ihre Medikamente ablehnt, wird sie in eine Rehaklinik in den Alpen eingewiesen. Auch dort verweigert sie jede Art von Hilfe und empfindet die Therapie als Zwang. Um dem Drang aller, ihr zu helfen, zu entfliehen und aus Angst, an der Therapie „zu ersticken“, läuft sie weg. Und gerade weil es ihr niemand zutraut, entscheidet sie sich für den schweren Weg bergauf, weil sie beweisen will, dass sie stärker ist als ihre Krankheit. Bei ihrem turbulenten Aufstieg begleitet sie der vorausschauende, freiheitsliebende, naturnahe, sympathische, rotlockige und unabhängige Bergjunge und „Herdenmanager“ Bart, der sie schiebt, trägt, fluchend erträgt und unterstützt. Sie geht trotz ihrer Überzeugung „Berge sind Scheiße“ zum Alpenbrennen, einem Feuer auf dem Berg, welches Krankheiten beim Überspringen lindern soll. In AMELIE RENNT passt alles zusammen. Es wird eine spannende Geschichte erzählt, die romantisch, aber nicht kitschig ist und ein ernstes Thema anschaulich und fröhlich erzählt. Amelie fühlt sich so eingeengt von ihrer Krankheit, dass sie alles und jeden mit Trotz und einer riesigen Bandbreite an Fluchen entgegenkommt, die bisher auch alle abgeschreckt hat, Bart jedoch nicht sonderlich beeindruckt. „Wenn ich fluche, merke ich, dass ich noch atme.“, antwortet Amelie schlagfertig wie immer auf Barts Frage, ob ihr bei der vielen Flucherei nicht die Luft ausginge. Und das tut sie wirklich unheimlich oft: Fluchen. Bart stört das nicht sonderlich, sondern er versucht sich stattdessen bei dem Aufstieg mit ihr in seinen Fluchkünsten zu messen. Bergjunge vs. Stadtgöre. Es entwickelt sich eine einzigartige Freundschaft zwischen den beiden, die auf Gegenseitigkeit beruht und die Unbeschwertheit einer fast schon kindlichen Freundschaft widerspiegelt. Bart trägt Amelie, als sie kaum noch Luft bekommt. Er zeigt ihr, wie man in den Bergen überlebt und der Zuschauer hat das Gefühl, dass er, auch ohne dass Bart und Amelie sich unterhalten, die beiden versteht und mit dabei ist. Denn zwischen den ausschwenkenden Kamerafahrten werden immer wieder Nahaufnahmen von Gesichtern gezeigt. Diese Aufnahmen helfen, die Gefühle zu verstehen und nah dran zu sein, zum Beispiel, wenn Amelie nach Luft ringt. Außerdem passt die Musik immer gut zu Amelies Stimmung. Als sie einen Anfall erleidet, wirkt die Musik dumpf, als würde man den Herzschlag hören, während die Naturszenen eher mit fröhlicher Musik hinterlegt sind. Der Abenteuerfilm mit den großartigen Hauptdarstellern ist gut geeignet für die ganze Familie und Kindern ab 12 Jahren. Ihnen fällt es leichter, Amelie nachzuvollziehen, den Konflikt mit ihren Eltern zu verstehen und ihre Ablehnung, sich der Therapie zu fügen, zu begreifen.
unterhaltsam: 5 Sterne
spannend: 5 Sterne
fröhlich: 4 Sterne
humorvoll: 4 Sterne
musikalisch: 4 Sterne
Gesamtbewertung: 5 Sterne.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)