An einem schönen Morgen: Drama um eine alleinstehende Mutter, die sich um ihre Tochter und den schwer kranken Vater kümmert und eine Affäre mit einem alten Freund beginnt.
Ein Jahr nach „
Bergman Island“ kehrte Mia Hansen-Løve nach Cannes zurück, diesmal in die Quinzaine des Réalisateurs. „Un beau matin“ markiert eine Rückkehr zu der großen Klasse früherer Hansen-Løve-Filme wie „
Eden - Lost in Music“ oder „
Alles was kommt„. Nicht, dass „Bergman Island“ falsch gewesen wäre, aber er wirkte etwas angestrengt, was die Filme der Französin mit dem dänischen Namen sonst eher eben genau nicht zu sein pflegen. Vielleicht weil das Sujet selbst wie ein Mühlstein um den Hals der Filmemacherin hing, die in ihren Arbeiten immer so mutig und schonungslos persönlich ist und stets Episoden aus ihrem Leben in einem fiktionalen Kontext thematisiert. In dem Film über ein Filmemacher-Ehepaar, das sich bei einem Besuch des Bergman-Festival auf den Faröer Inseln bewusst wird, dass ihre Liebe zu einem Ende gekommen ist, hatte die 41-Jährige versucht, ihre Trennung von ihrem langjährigen, deutlich älteren Lebensgefährten Olivier Assayas aufzuarbeiten, ein auch bitteres und verzweifeltes Werk, das erst in der allerletzten Szene neue Hoffnung und Lebensmut schöpft.
Um „Un beau matin“ entstehen lassen zu können, musste Mia Hansen-Løves, zumindest stelle ich mir das so vor, erst einmal „Bergman Island“ machen. Man kann ihn sogar als Fortsetzung im Geiste auffassen, auch wenn die Figuren und Darsteller und die inhaltliche Stoßrichtung völlig andere sind. Der eine Film endet damit, dass die nunmehr ohne Partner im Leben stehende Hauptfigur mit ihrer Tochter wiedervereint wird, ein Moment solitären Glücks; „Un beau matin“ greift den Faden auf, erzählt nun von einer alleinstehenden Mutter mit einer zehnjährigen Tochter, die mit der Sterblichkeit ihres schwer kranken Vaters und der Aussicht auf eine mögliche neue Liebe nach fünf Jahren als Single umgehen muss. Man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man sagt, dass Hansen-Løves neuer Film im Schatten des großen Monolithen entstanden ist, eine zarte Pflanze, geschützt und gehegt und unter dem Radar, frei von dem Erwartungsdruck, der „Bergman Island“ belastet hatte, ihre bislang größte Produktion, erstmals realisiert mit einem namhaften internationalen Ensemble. Während der eine Film aber gehemmt wirkte mit seiner akademisch wirkenden Film-in-Film-Struktur, erlebt man hier einen Befreiungsschlag, Einblicke ins Leben, die unforciert wirken, frei vom Diktat einer einengenden Dramaturgie, die den Figuren den Weg durch den Film vorschreiben würde.
Wie immer ist auch diese Arbeit der Regisseurin wieder zutiefst persönlich. Nachdem sie in „Alles was kommt“ kaum verhohlen von ihrer Mutter erzählt hatte, geht es nun um ihren Vater, in der Fiktion des Films ein ehemaliger Philosophieprofessor, den die Erkrankung mit Benson-Syndrom nach und nach dessen beraubt, was sein Leben war: das Denken. So sieht man den alten Mann, immer freundlich, immer zuvorkommend, umgeben von seinen vielen Büchern, wie er Schwierigkeiten hat, einfachste Sachverhalte zu begreifen oder in seinem Kopf zu speichern. Ein Mann des Geistes, dem der Geist abhandenkommt. Ein Mann, der durch die Bücher in seiner Bibliothek gelebt hat und nicht mehr lesen kann. Sandra ist eine seiner Töchter, gespielt von Léa Seydoux, die als Übersetzerin ein Leben führt, das daraus besteht, Informationen aufzunehmen und für andere Menschen zugänglich zu machen, und nun ihren Vater erlebt, dem genau diese grundsätzlichste aller menschlichen Funktionen abhandenkommt. Sie geht liebevoll um mit ihrem Vater, voller Geduld und Zärtlichkeit. Als die Familie aufgrund des Fortschreitens der Erkrankung gezwungen ist, ihn in ein Krankenhaus zu verlegen und ein Pflegeheim für ihn zu finden, muss auch die Wohnung aufgelöst werden. Seine Bücher sollen seinen einstigen Schülern zugutekommen. Sandra kann nicht umhin anzumerken, dass sie sich ihrem Vater in seiner Bibliothek näher fühlt als wenn sie seine sterbliche Hülle besucht: Diese Bücher machten ihn aus, auch wenn er sie nicht geschrieben hat - er habe sie ausgewählt.
Es ist schwierig, das Leben, sagt eine alte Dame ziemlich zu Beginn des Films zu Sandra. Davon erzählt „Un beau matin“, in dem es um Sterblichkeit geht, um Krankheit, das Vergängliche. Aber eben auch um Neuanfänge und das Umarmen dessen, was die eigene Existenz erträglich und lebenswert macht. Es geht um das, was man liebt. So findet der Film eine wunderbare Balance zwischen den ergreifenden Momenten mit Sandras Vater, würdevoll und sympathisch gespielt von Pascal Greggory, und der Affäre Sandras mit einem verheirateten Freund, dem sie sich öffnet und in den sie sich verliebt. Auch das keine einfache Angelegenheit, aber was ist das schon? Mia Hansen-Løve lässt den Zuschauer teilhaben an den Freuden und Triumphen, den Rückschlägen und Schicksalsschlägen, die das Leben ausmachen. Und sie macht das mit einem so klaren Blick, dass es zumindest mir unmöglich erscheint, ein Publikum könne nicht jeden Moment des Films zusammen mit ihr feiern. Abschließend noch die Anmerkung, dass „Un beau matin“ als internationale Koproduktion mit Razor Film als deutschem Partner entstanden ist. Dass die Rolle von Roman Paul und Gerhard Meixner vielleicht eine größte Rolle gewesen sein könnte, lässt dier kuriose Umstand vermuten, dass die beiden im Vorspann als Koproduzenten noch vor den Produzenten genannt werden. Gratulation jedenfalls zu diesem sehr schönen Film.
Thomas Schultze.