ANTICHRIST ist ein mutiges Werk über die Abgründe der menschlichen Natur. Nach dem Unfalltod ihres Sohnes ziehen sich die Eltern in eine Waldhütte zurück, wo der Mann als Therapeut seine Frau von ihren Schmerzen befreien und durch ihre Angstzustände hindurch führen will. Von Beginn an wird der Betrachter von einem unheilvollen Sog in die Geschichte gezogen, der das unvermeidliche Drama vorwegnimmt: einen existentiellen Kampf, der sich bis zum Äußersten steigert. Regisseur Lars von Trier konstruiert mit eigenwilliger symbolischer Bildsprache und einer Untermalung von bedrohlichen Klängen einen filmischen Albtraum, aus dem der Zuschauer mit großem Schrecken erwacht. Nichts für zarte Gemüter, aber ein beeindruckendes Filmwerk: innovativ, überwältigend, verstörend.
Jurybegründung:
Die Mehrheit der Jury ist der Überzeugung, dass der Film von Regisseur Lars von Trier ein Meisterwerk ist, welches in die Filmgeschichte eingehen wird. Allerdings stößt man jedoch schnell an Grenzen, wenn es darum geht, diese meisterliche Leistung adäquat zu beschreiben bzw. in einem Diskurs der konventionellen Filmästhetik auf den Punkt zu bringen.
In der Diskussion wurden verschiede Versuche der Deutung unternommen. Beispielsweise wurde die These vertreten, dass der Film einen archaischen Geschlechterkonflikt zur Sprache bringt, bei dessen Entfaltung in den historischen Machtkämpfen ein männlich konfiguriertes Symbolsystem geschaffen wurde, welches bei der Lektüre durch Frauen zu deren Wahnsinn führen kann und sie in diesem Fall dazu treibt, das Böse zu verwirklichen, welches quasi in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung angelegt ist.
Eine andere Auslegung bestand darin, dass in genialer Weise ein Alptraum oder eine Psychose mit filmischen Mitteln visualisiert wurde und zugleich (durch die Figur des Therapeuten) mit einem rationalen (psychologischen) Erklärungsmuster kombiniert wurde. Ängste haben offenbar einen entscheidenden Stellenwert in diesem außergewöhnlichen Versuch der Erkundung menschlicher Abgründe. Die Reichhaltigkeit der cineastischen Inszenierung eröffnet mannigfache Assoziations- und Interpretationsmöglichkeiten. Der Autor selbst scheint im besten Sinne des Wortes FilmKUNST geschaffen zu haben, deren Gestaltungsprinzip sich vielleicht eher mit Versen von Gottfried Benn als mit Kategorien der Filmwissenschaft skizzieren lässt:
‚…Und was bedeuten diese Zwänge,
halb Bild, halb Wort und halb Kalkül,
was ist in dir, woher die Dränge
aus stillem trauernden Gefühl?
Es strömt dir aus dem Nichts zusammen,
aus Einzelnem, aus Potpourri,
dort nimmst du Asche, dort die Flammen
du streust und löscht und hütest sie …‘
Zahlreiche Aspekte regten die Jury zu einer intensiven und ausgiebigen Diskussion an. Beispielsweise wurde erörtert, dass die Frau ihrem Sohn Nick absichtlich die Schuhe verkehrt anzieht, um ihn am Weglaufen zu hindern bzw. die Bewegungsfreiheit einzuschränken - ebenso wie sie später im Wahn den Ehemann aus Angst vor dem Verlassenwerden mit dem Schleifstein am Fortgehen hindert.
Subtil sind mit beiläufig eingebauten Elementen (z. B. mit dem Befund der Obduktion) Indizien platziert, die Fragen aufwerfen, welche durch die spätere Handlung aufgegriffen werden. Virtuos gelingt es, mit faszinierenden - teilweise symbolträchtigen - Bildern z.B. dem Fuchs, dem Reh und dem Vogel oder mit sprachmächtigen Dialogen und inneren Monologen - gewissermaßen ‚Öl ins Feuer der Fantasie‘ zu schütten. Die krassen Szenen stellen keine Effekthascherei dar, sondern können als extreme Visualisierungen mit komplexem semantischen Gehalt aufgefasst werden.
Eine auch nur ansatzweise ausreichende Analyse der Zeichen und Codes ist im Rahmen einer FBW-Bewertung von der Jury natürlich nicht zu leisten. Das gilt ebenfalls für tief schürfende Analysen zur Filmstruktur. Im zeitlichen Rahmen der Begutachtung wurden jedoch u. a. die herausragenden darstellerischen Leistungen und die mutigen Überschreitungen des konventionellen filmästhetischen Bilder-Repertoires gewürdigt. Händels ‚Lascia ch’io pianga‘ darf als treffliche Begleitmusik zum Prolog und Epilog gelten.
Die erwähnte Radikalität der Ästhetik bringt es freilich mit sich, dass nicht alle Jurymitglieder diese Leistung anerkennen konnten. In der Diskussion gab es leidenschaftliche Plädoyers für den Film, aber auch vehemente Ablehnung. Ebenfalls gehörte Unentschiedenheit zu den ersten, unmittelbaren Reaktionen. Schließlich entschied sich die Mehrheit nach gründlicher Abwägung für die Vergabe des Prädikates besonders wertvoll.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)