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„Assassination Nation“: Wenn Fuckboys auf die Schnauze kriegen

„Assassination Nation“: Wenn Fuckboys auf die Schnauze kriegen

„Assassination Nation“ vermischt die Ästhetik eines High-School-Abschlussballs mit dem Splatter von Horrorfilmen. Ein satirischer Rundumschlag gegen Social-Media-Wahn, männliche Gewalt und hysterische Eltern. Kann der Teenage-Exploitation-Schocker sein Versprechen halten und einen heilsamen Tiefschlag zwischen die Beine landen?

„Assassination Nation“ beginnt mit einer Triggerwarnung. Der Film zeige Blut, Gewalt, viel Blut, Sex, Drogenkonsum, den männlichen Blick, toxische Maskulinität, schwache männliche Egos, versuchte Vergewaltigung, Homophobie, jede Art von Gewalt, die mit Männlichkeit assoziiert wird — und in einem Akt ironischer Überaffirmation löst der Film diese Versprechen auch ein. „Assassination Nation“ wäre gern dein nächster Kultfilm. Ganz so furios und provokant ist der zweite Film von Sam Levinson („Stoic“) dann allerdings doch nicht geworden.

Das Internet der Schwänze

Levinson versetzt für seine Social-Media-Satire den berühmten Hexenprozess von Salem in die Gegenwart. Im Jahr 1692 wurden damals 20 Menschen Opfer einer religiösen Massenhysterie. In „Assassination Nation“ wird dieses Salem zum Schauplatz eines Hackerangriffes. Als die privaten Daten sämtlicher Einwohner öffentlich gemacht werden, einigt sich die Kleinstadt darauf, die unschuldigen High-School-Schülerinnen Lily (Odessa Young), Sarah (Suki Waterhouse), Em (Abra) und Bex (Hari Nef) dafür zu bestrafen. Warum ausgerechnet die Mädchen zur Zielscheibe werden, darum dreht sich der Film.

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In der ersten halben Stunde konzentriert sich der Film ganz auf Lily und ihre Clique. In einer Montage — das Bild ist vertikal dreigeteilt — laufen drei Handlungsstränge nebeneinander, die Bilder sind neonrot, weiß, blau  — die amerikanische Flagge. Lily schmeißt sich zu fettem Hip-Hop auf eine High-School-Party. Sie und ihre Mitschüler bewegen sich ausschließlich im Internet der Schwänze, auf den Masturbations-Plattformen Tinder, Facebook, Instagram, ihr Alltag ist pornofiziert, hysterisiert und komplett entsolidarisiert, da sich alles nur um den eigenen Account dreht, #Solipsismusmaschine.

Dass die erste halbe Stunde von „Assassination Nation“ nicht vollends zur hyperaktiven Clip-Collage gerät, liegt an der Dynamik zwischen Lily und ihren Freundinnen, die in ruhigen Momenten ihr Internet-Leben reflektieren und sich durchaus bewusst sind, was es an Selbstfilterung kostet, das mediale Selbstbild zu pflegen. In diese scheinbare Normalität platzt die Nachricht, dass ein Hacker zuerst die Konten des Bürgermeisters, dann des Schulrektors, dann aller Einwohner von Salem geknackt hat. Und die Hexenjagd beginnt.

Die Social-Media-Puritaner

Wenn Lilys Freund Mark (Bill Skårsgard) seine Finger in ihren Rachen schiebt und einen Handyporno dreht, geht das offensichtlich in Ordnung. Wenn Lily aber heimlich einen SMS-Flirt mit ihrem Nachbarn, dem Familienvater Nick (Joel McHale), hat und sich die im Internet vorgelebten pornografischen Bilder aneignet, wenn sie ihr Selbstbild steuert, dann wird sie zur Schlampe. Durch den Hack kommt Lilys Affäre ans Licht. Und sofort einigt man sich darauf, nicht in dem erwachsenen Familienvater, sondern in der Teenagerin die Schuldige zu erkennen — für alles.

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„Assassination Nation“ zeichnet nach, wie eine patriarchale Gesellschaft Frauen dafür bestraft, sich ihres Körpers — und als dessen Verlängerung auch ihres Selbstbildes — zu ermächtigen. Weil Lily sich angemaßt hat, selbst zu entscheiden, wie sie sich darstellen möchte, muss sie wieder zum Objekt degradiert werden. Ein Lynchmob, angeführt von ausgerechnet einem Polizisten, hetzt durch die Straßen von Salem. „Wir sind die guten Bürger“ brüllt der Polizist. Gut, weil empört, gut, weil übers Ohr gehauen und verarscht, gut, weil sie sich nach einer Ordnung sehnen, die der Film als Unterdrückung, mithin für Lily also als blankes Chaos, entlarvt.

Was haben das puritanische Amerika des 17. Jahrhunderts und die Hypermoderne der Gegenwart gemein? Die Totalüberwachung und den Pranger. „Assassination Nation“ stellt seine Figuren mehrmals vor pöbelnde Menschenmassen. Mussten die Puritaner ihre Nachbarn noch mühselig durch das Fenster beobachten, blickt das Smartphone nun direkt in die Seele, und in der Seele der anderen sitzt für gewöhnlich der Teufel. Dass Doppelmoral und Hysterie in einer solchen Gesellschaft blühen, verwundert kaum. Als auf dem Handy des Schuldirektors Fotos seiner sechsjährigen Tochter, die nackt in der Badewanne sitzt, gefunden werden, empören sich Lilys Eltern — ein Pädophiler in der Schule. Lily weist darauf hin, dass ihre Eltern selbst so ein Foto auf dem Kaminsims hätten, aber sie wird abgeschmettert. Angeblich versteht Lily davon nichts.

Es ist Zeit, die Masken abzureißen

Ironischerweise wurde laut Indiewire in den USA gerade eine Szene aus dem Film gestrichen, in der Lily diese Doppelmoral gegenüber dem Schuldirektor dekonstruiert. Sie hat ein explizites Bild im Kunstunterricht eingereicht, ein Akt, der eine sich selbst befriedigende junge Frau zeigt. Dass es sich um ein Gemälde handelt, war in den USA wohl egal. Dass Lily in dem folgenden Dialog klar darstellt, wie an Frauen die permanente Forderung gerichtet wird, sexy, verfügbar, aber nicht zu schlampig zu sein und wie selbstverstümmelnd es ist, diese Forderung zu erfüllen, auch das war wohl egal.

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Die Darstellung von Gewalt ist natürlich kein Problem. In der zweiten Hälfte des Filmes verliert Salem komplett den Verstand. Fuckboys (zu Deutsch: Jungs, die nur Sex wollen) und gekränkte Egos beherrschen die Straße. Gleichzeitig fährt Levinson die nervöse Erzählart des Anfangs runter und inszeniert den Gewaltausbruch nun deutlich ruhiger und leider, bis auf eine nervenaufreibende Home-Invasion-Szene, auch konventioneller. Zum Schluss befolgt „Assassination Nation“ die Gesetzmäßigkeiten des Rachefilmes. Lily und ihre Freundinnen schießen zurück und der Film mündet in einem kathartischen Gewaltfinale, in dem sich maskierte Männer und unmaskierte Frauen gegenüberstehen. Dann wendet sich Lily an das Publikum.

Die letzte Ansprache ist zwar als emotionaler Höhepunkt dieses aggressiven Teenage-Exploitation-Dramas gedacht, gerät aber zum schwächsten Moment der Geschichte. Es ist Zeit, die Masken abzureißen, fordert Lily. Aber was, wenn dahinter gar nichts ist? Schon Büchner hatte gewarnt, dass mit den Masken auch die Gesichter mitgehen. Und auch Lily scheitert in ihrer Ansprache, ein Ich ohne Maske zu definieren. Wäre es also nicht besser, die Masken mit etwas weniger Ernst und dafür mit mehr Ironie zu spielen?

Fazit: „Assassination Nation“ taucht voll in die Gender-Grabenkämpfe unserer Zeit ein. Mit aufklärerischem Gestus will der Film die Doppelmoral einer Gesellschaft aufzeigen, die sich vollständig im Internet bewegt. Die erste Hälfte des Filmes überzeugt als starke Satire, die zweite Hälfte hält sich aber zu eng an Horror-Konventionen, um wirklich zu schockieren. Vielleicht ist „Assassination Nation“ nicht der nächste Kultfilm, als mutiger Teenage-Exploitation-Reißer aber rundheraus zu empfehlen!

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