Atlantique: Drama über eine junge Frau in Dakar, deren Liebhaber den beschwerlichen Meeresweg nach Europa einschlägt.
Mit einer allegorischen Geistergeschichte vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise gibt Mati Diop ihr Regiedebüt.
Wie im Cannes-Eröffnungsfilm „The Dead Don’t Die“ kehren die Toten im Wettbewerbsbeitrag „Atlantique“ zurück, weil es noch nicht erledigte Geschäfte zu beenden gilt. Buchstäblich. Diop hat mit ihrem Drama auf jeden Fall schon einmal Geschichte in Cannes geschrieben, als erste schwarze Regisseurin, die einen Film im Wettbewerb vorstellen konnte (und als erste von insgesamt weiblichen Filmemacherinnen in diesem Jahr, genauso viele wie 2018, als Nadine Labaki mit ihrem „Caparnaum“ herausragte und den Preis der Jury gewinnen konnte). Das ist aller Ehren wert. Mich zumindest konnte der Film - ansonsten weithin gepriesen, das sei angemerkt - indes nicht wirklich überzeugen, auch wenn Diops ungewöhnlicher Ansatz und völlig neuer Blickwinkel auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer unbedingt einen Blick wert ist.
Als Schauspielerin kennt man die 37-jährige Nichte des legendären schwarzafrikanischen Filmemachers Djibril Diop Mambéty („
Touki Bouki„) aus Claire Denis‘ „
35 Rum“ - man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man Elemente des Filmemachens von Denis auch in Diops Spielfilmdebüt verortet: das assoziative, eliptische Erzählen, der hypnotische, repetitive Rhythmus der Bilderfolgen, der fließende Übergang zwischen bitterer Realität und überhöhter Fantasie. Anders als in ihrem gleichnamigen Kurzfilm stehen hier jetzt nicht die Männer im Mittelpunkt, die die beschwerliche und oftmals todbringende Reise von Afrika nach Europa auf sich nehmen, sondern die Frauen, die zurückgelassen werden und mit der Ungewissheit über deren Verbleib leben müssen: Ada liebt Souleyman, der mit anderen Arbeitern, die seit Monaten auf ihre Bezahlung durch einen Baulöwen warten, per Jolle nach Spanien aufbricht, um sich dort eine Existenz aufzubauen, die ihm in der Heimat versagt bleibt. Widerwillig lässt Ada sich auf eine arrangierte Ehe ihrer konservativen muslimischen Eltern ein, ohne allerdings jemals ihre wahre Liebe aus ihren Gedanken verdrängen zu können. Sie ahnt nicht, dass der Geist Souleymans bereits zurückgekehrt ist: Wie von selbst geht das Ehebett in Flammen auf, ein mit den Ermittlungen betrauter junger Polizist und ihre Freundinnen werden von einem unerklärlichen Fieber befallen, das ihre Augen nach Sonnenuntergang komplett weiß werden und sie durch die Straßen der Stadt stolpern lässt. Immer wieder schneidet Diop ihre beklemmenden Bilder umherirrender Seelen gegen mit Aufnahmen vom Meer, das unberührt bleibt von den Geschehnissen in Dakar. Das ist nicht ohne Reiz, aber am Ende ist das Gezeigte zu dünn, sind die Entwicklungen längst nicht so geheimnisvoll und betörend, wie es sich die Filmemacherin wohl wünschen mag. Ein großes Talent schlummert in ihr, aber ihr Potenzial muss sie erst noch entfalten. ts.