In der Nähe der russischen Raumstation Baikonur leben die Dorfbewohner vom Weltraummüll, der vom Himmel fällt. Einer der Dorfbewohner ist ein junger Amateurfunker, genannt „Gagarin“, dessen größter Traum es ist, selbst einmal Astronaut zu sein. Unsterblich verliebt ist er in Julie, eine französische Weltraumtouristin, die sich einer All-Mission angeschlossen hat und bei ihrer Rückkehr auf die Erde mitten im Dorf landet. Und mit diesem ungewöhnlichen Fund hat nun wirklich keiner gerechnet. Wie in seinen vorherigen Filmen ist es erneut der magische Realismus, den Regisseur Veit Helmer benutzt, um eine skurrile und liebevoll ausgearbeitete Geschichte zu erzählen. Dabei ist es vor allem der harte Gegensatz der von Struktur, Ordnung und Kälte geprägten Raumstation und des chaotischen und naturverbundenen Dorflebens, welcher den Reiz des Films ausmacht. Schrullige Figuren, heikle Verwicklungen und eine Liebesgeschichte, die nicht von dieser Welt scheinen, schaffen ein zauberhaftes Filmvergnügen sowohl für technikorientierte Weltraumfans als auch für Liebhaber romantischer Geschichten.
Jurybegründung:
Ein aus wenigen Jurten bestehendes Dorf in der kasachischen Steppe zwischen Tradition und Moderne: Die Bewohner leben mehr schlecht als recht davon, Weltraumschrott einzusammeln, der bei den Raketenstarts der nahe gelegenen Raumstation Baikonur vom Himmel fällt. Denn „was vom Himmel fällt, ist ein Geschenk Gottes und darf man behalten“. Die Gemeinschaft ist angewiesen auf die Vorhersagen des jungen „Gagarin“, der eigentlich Iskander heißt. Mit seinem archaischen Funkgerät und den Wettermeldungen ist er imstande, zu berechnen, wo die Raketenreste niedergehen werden. Außerdem schwärmt er für die französische Weltraumtouristin Julie. Als diese junge Kosmonautin zur Erde zurückkehrt, ist er es, der sie aus ihrer Raumkapsel in der Steppe befreit. Da sie ihr Gedächtnis verlor, „macht“ er sie ganz im Sinne der traditionellen Regel zu seiner Verlobten und gibt sich selbst für kurze Zeit dieser Illusion hin. Doch als es zur Vereinigung der beiden kommt, bemerkt sie den Schwindel und entgleitet ihm so schnell, wie sie ihm zuflog.
Das augenfällig kontrastreiche Setting in diesem modernen Märchen stellt die Gegenpole von traditionellem Leben und einer von Technisierung und Globalisierung geprägten Moderne nicht einfach als unversöhnliche Gegenpole gegenüber: Schließlich ist das Dorf längst abgekapselt von traditionellen, nomadischen Lebensformen. Man speist sich von den kargen Krumen, die die chinesischen Abnehmer des Weltraumschrotts ihnen zuwerfen. Auf der anderen Seite ist Baikonur zwar das Tor zum Weltraum und Inbegriff der Hochtechnologie. Aber dieses klare Bild ist wiederum durchzogen von sowjetisch-ideologischer Patina, vom Alltag einer russischen Macht-Enklave auf kasachischem Territorium. Der hochempfindliche Komplex lässt sich auch einfach mal durch das Umlegen eines Hebels lahm legen.
Vor diesem Hintergrund ist das Märchen zunächst sehr patent in der Gegenwart verankert. Konsequent setzt Regisseur Veit Helmer sein bisheriges Schaffen, dessen Stil häufig als „magischer Realismus“ konstatiert wurde, mit diesem Film fort. Klar gesetzte Mythenelemente finden sich genauso, wie das Entrücktsein von der Realität oder märchenhaft anmutenden Augenblicken. Doch ebenso finden wir in BAIKONUR eine konventionell erzählte Geschichte wieder, die sich an einem Spannungsbogen orientiert und eben auch reale Menschen in der postsowjetischen Wirklichkeit zeigt. Reale Entwicklungen werden über alte Märchenmythen abgebildet.
Dieser Kontrast innerhalb der Rezeption des Films ist ähnlich markant wie die Ungleichheit von Steppe und Raumstation. Dies führte innerhalb der Jury zu unterschiedlichen Auffassungen, inwieweit man sich von dem Film als Ganzes tragen lassen kann.
Das Durchleben verschiedener Altersstufen Gagarins im Schnelldurchgang findet in aneinander gehängten Tableaus statt, die für den einen wie filmische Gemälde erscheinen, die zur Selbstbeteiligung und eigenen gedanklichen Verbindungen einladen. Für den anderen bedeuten sie innerhalb einer angebotenen und angedeuteten konventionellen Dramaturgie lose, aufeinander folgende Filmsequenzen. Die darin zum Teil mechanisch agierenden und sprechenden Figuren sind mal ganz und gar von ihren Emotionen bestimmt, dann aber wieder agieren sie wie ferngesteuert, weil die Idee von außen zu deutlich wird. Das Märchenhafte wirkt so bald behauptet, die Poesie greift nicht. Humorvoll beobachtete, einnehmende Dorfbewohner, welche sich nicht allein von der kalten Logik der Moderne determinieren lassen wollen, erscheinen schnell auch mal als kauzig ausgestellte Folklore-Staffage.
Ist man als Rezipient auf der einen oder anderen Fährte, fällt entsprechend auch die Interpretation der Haltung des Films auseinander. Am Schluss kann Gagarins/Iskanders Rückkehr ins Jurtendorf als Erkenntnis begriffen werden, in einer Wiederentdeckung der traditionellen Lebensweise (nomadische Tierzucht) das Neue und Nachhaltige im Verwurzelten zu sehen. Dennoch bleibt die Gefahr der Verklärung einer kleinen Gemeinschaft in einfachen, traditionellen Lebensverhältnissen unverhältnismäßig groß.
Darüber hinaus ist man gewiss sehr eingenommen von der großartigen Bilderwelt - sowohl auf der visuellen, als auch auf der Bedeutungsebene. Beispielgebend sei hier erwähnt, wie der Testkosmonaut Gagarin über dem Übungsbecken in der Raumstation am Kran hängend in der Luft baumelt. Buchstäblich tritt er auf der Stelle und gibt damit vorzüglich seine gegenwärtige Verfassung wieder. Überhaupt agieren die Schauspieler in ihrem vorgegebenen Rahmen sehr überzeugend. Die große Antriebskraft eines in der deutschen Filmlandschaft außergewöhnlichen Autorenfilmers ist deutlich hinter diesem eigenwilligen Coming of age-Märchen zu spüren.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)