FBW-Pressetext:
Maren ist 17 Jahre alt, als ihr Vater die Entscheidung trifft, wegzugehen. Er hat das Gefühl, sie nicht mehr beschützen zu können, er hat Angst vor dem, was Maren tun könnte. Denn Maren ist ein „Eater“ und greift seit ihrer frühesten Kindheit immer wieder Menschen an, um ihr Fleisch zu essen. Auf sich allein gestellt trifft Maren den Entschluss, sich auf die Suche nach ihrer Mutter zu begeben. Auf dem Weg dorthin findet Maren heraus, dass sie nicht so alleine ist wie sie zunächst dachte: Denn es gibt viele „Eater“ wie sie. Einer davon ist der Außenseiter Lee. Zusammen begeben sich Maren und Lee auf eine Reise durch den Mittleren Westen der USA. Eine Reise, die sie einander immer näher bringt. Und die zeitweise sogar das Zuhause verheißt, das beiden bisher nie vergönnt war.
Mit seinem neuesten Film BONES AND ALL beweist Regisseur Luca Guadagnino erneut, dass er die Grenzen zwischen Genres überzeugend durchmischen kann. Dabei gelingt ihm ein faszinierend-sinnlicher Hybrid aus Liebes- und Horrorfilm, der gleichzeitig eine liebevoll und zart erzählte Coming-of-age-Story, aber auch ein Roadtrip in die Schattenseiten einer amerikanischen Gesellschaft inmitten der 1980er Reagan-Ära ist. Dass es sich bei Maren und Lee um Figuren handelt, die Kannibalen sind, denen man aber gleichzeitig auch mit Empathie folgen kann, ist eine weitere Ambivalenz, die den Film auszeichnet. Timothée Chalamet spielt Lee mit mysteriösem Charisma, die Intensität seine Darstellung entsteht dabei nicht in ausladenden Gesten, sondern in einer fast transzendentalen Ruhe. Doch es ist Taylor Russell, die als Maren jede Szene mit ihrer Präsenz kontrolliert. Wie ein verlorenes Tier irrt sie zunächst haltlos auf den Straßen. Doch immer mehr erscheint sie gefestigt in ihrer Suche nach der eigenen Identität. Der Film lässt sich Zeit, die Figuren zu entwickeln, die dynamische Kamera von Arseni Khachaturan wird zum engen Reisebegleiter, wobei es ihr gleichzeitig gelingt, auch eine Stimmung für das Setting des Films zu entwickeln. Leere Landschaften, kaputte Gegenden, in sich zerrissene Menschen - BONES AND ALL zeichnet kein schönes Bild einer Gesellschaft und erlaubt den Liebenden doch einen Hoffnungsschimmer auf eine gemeinsame Zukunft. Die Bilder der Gewalt sowie die kannibalistischen Übergriffe inszeniert Guadagnino explizit und roh, der Score von Atticus Ross und Trent Reznor ist gewohnt rotzig und stimmungsvoll. Im Einsatz seiner Mittel, in der Erzählung seiner Geschichte und im Vermischen von Genres beweist BONES AND ALL Mut und überzeugt mit erzählerischer Kraft.
FBW-Jury-Begründung:
Wie fühlt es sich an, anders zu sein und ausgestoßen und darum wissend, dass man aufgrund des eigenen Seins, der eigenen Veranlagung immer eine Fremde, eine Außenseiterin sein wird? Diesen Fragestellungen, die zugleich Chiffren sind für die Suche nach der eigenen Identität, die vor allem die Zeit der Adoleszenz auszeichnet, bilden den Hintergrund von Luca Guadagninos neuestem Werk Bones and All.
Eingebettet ist dieser Film zeitlich in die Reagan-Jahre der 1980er, was vor allem der sorgsam ausgewählte Soundtrack mit Pop- und Underground-Songs jener Zeit eindrucks- wie wirkungsvoll unterstreicht. örtlich wiederum in die ländlichen Regionen der USA und in Sachen Genre im Niemandsland zwischen blutigem Horrordrama, einer romantisch anmutenden Coming-of-age-Geschichte und Elementen des Road Movie, wobei hier ein fast schon soziologisch sezierender Blick die Besitz- und Klassenverhältnisse der Reagan-Jahre schonungslos entblößt.
Die Jury fühlte sich ebenso an Julia Ducournaus Erstling RAW erinnert wie auch an Tomas Afredsons SO FINSTER DE NACHT aus dem Jahre 2008 - in beiden Werken verbinden sich ebenso wie in BONES AND ALL Horrormythen wie Kannibalismus und Vampirismus mit komplexen Erzählungen über Kindheit und das Heranwachsen. Behandelt wird das Außenseitertum sowie die existenzielle Erfahrung von Fremdheit in der Welt. Zugleich aber ist der Film geprägt von einer ganz eigenständigen Ästhetik, von zahlreichen falschen Fährten, die der Film immer wieder auslegt, vom Mut zur außergewöhnlichen, aber nach Meinung der Jury nicht immer stringenten Dramaturgie und zur expressiven und nicht immer fein nuancierten Figurenzeichnung. Zugleich fällt auf, mit welch großer Sorgfalt Kostüm- und Szenenbild ausgearbeitet sind, wie feinfühlig und dann wieder im nächsten Moment brachial die Kamera dem atemlosen Geschehen der verschiedenen Akteur*innen folgt, wie treffsicher die Musikauswahl den Zeitgeist einerseits und die innere Verfasstheit der Held:innen andererseits kommentiert und einrahmt.
Guadagninos neues filmisches Werk ist aufgrund der zahlreichen bewussten narrativen, moralischen wie filmästhetischen Grenzüberschreitungen mit Sicherheit ein Film, der polarisiert. Und das bezieht sich keinesfalls nur auf das Publikum, sondern spiegelt sich auch in der lebhaften und kontroversen Diskussion innerhalb der Jury wieder, die sich nach langem Für und Wider für die Vergabe des Prädikats WERTVOLL entschied.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)