Marina Kem hat ihren Vater Ottara Kem geliebt. Doch wirklich gekannt hat sie ihn nicht. Denn er selbst hat nie viel von sich erzählt. Als junger Mann kam er aus Kambodscha in die damalige DDR, studierte dort und baute sich ein neues Leben auf. Über seine Familie und seine Heimat sprach er so gut wie nie. Als er an Lungenkrebs stirbt, reist Marina Kem mit ihren Schwestern nach Kambodscha, um die Asche ihres Vaters dort zu bestatten. Und sie entscheidet sich, auf die Suche nach der Vergangenheit eines Menschen zu gehen, der ihr so nah und doch so fremd war. Marina Kem ist mit BONNE NUIT PAPA ein unglaublich vielschichtiger und differenzierter Dokumentarfilm gelungen. Nicht nur porträtiert sie einen Mann, dessen Gedanken und Überlegungen beweisen, was für ein faszinierender und außergewöhnlicher Mensch er war. Die Filmemacherin nimmt den Zuschauer außerdem mit auf eine Reise in ein fremdes Land, mit seiner Kultur, seinen Menschen und seiner erschütternden Geschichte der jahrzehntelangen politischen Unruhen. Denn nicht jedem gelang die Flucht ins Ausland wie Ottara. Viele Mitglieder der Kem-Familie wurden durch das Regime der Roten Khmer gefangengehalten, gefoltert und getötet. Umso erstaunlicher und berührender wirken die heutigen Begegnungen mit den Überlebenden, die zeigen, dass Güte und Liebe trotz allem Grauen stärker sind als Hass und Gewalt. Auch über Ottara Kems Leben in der DDR erfährt man viel. Die Gespräche mit der Familie, mit Freunden und Kollegen Ottaras zeichnen ein persönliches und gesellschaftliches Bild gleichzeitig und beweisen die hohe Kunst der Regisseurin, die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen. Das alles erzählt sie sensibel und zurückhaltend, ohne sich jemals in den Vordergrund zu schieben. Im Film fehlt dazu jegliche Glorifizierung und jede Überhöhung. Doch in jeder Minute erkennt man Liebe, Respekt und Wärme. Eine tief bewegende und großartig erzählte Suche einer starken Frau nach der Geschichte ihres Vaters. Und ihren eigenen Wurzeln.
Jurybegründung:
Das Leben ihres Vaters erforschte Marina Kem, Autorin und Regisseurin vor allem nach dessen Tod, denn die Versuche, zu Lebzeiten etwas über sein Heimatland und seine Jugend dort zu erfahren, scheiterten komplett. Papa blieb schweigsam, verschloss sein Inneres vor Frau und Töchtern. Ein früherer vergeblicher Versuch, den Marina unternimmt, indem sie mit Vater und Freund in die Heimat des Vaters, Kambodscha, reist, wird bald nach Beginn des Films erwähnt, auch kurz im Film zitiert, dann aber erst wieder im letzten Akt des Films erfolgreich aufgenommen.
Typisch für den Film ist seine mäandernde Erzählweise, die mit vielen Fotos, aber auch anderem bewegten Archivmaterial ergänzt wird. An einigen Stellen finden sich auch illustrierende Animationen. Diese Materialfülle zeugt von intensiver Recherche, Phantasie und Hingabe ans Thema. Die sehr persönliche Erzählweise gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, sehr nahe an den Vater heran zu kommen, so nahe, wie es Frau und Töchtern nicht mehr möglich war.
Mit Bildern der Familie aus Kambodscha, die bei späteren Reisen entstehen, wird auch die Fremdheit nochmals betont, die Jugend des Vaters wird beschrieben, seine Verwandten werden befragt. Ein weiteres Kapitel bemüht sich um die Darstellung des Krieges und streift auch die Schrecken des Pol Pot-Systems, das die Menschen und die Kultur Kambodschas so furchtbar zerstörte. Die Regisseurin setzt alle Ereignisse in Zusammenhang mit dem Vater und seinem Leben. Sie unterlässt es jedoch, Interpretationen und Vermutungen zu äußern, die beim Zusehen entstehen.
Der Film berührt besonders durch sein feinfühliges Eingehen auf die Suche der Tochter nach dem Wesen ihres Vaters. Weil er nicht sprach, glaubte sie, ein gemeinsamer Aufenthalt in seinem Heimatland werde seine Gefühle wecken und ihn ihr näher bringen. Doch das erwies sich als vergeblich. Erst vor seinem nahen Tod kamen sich Vater und Tochter näher, konnten miteinander sprechen. Deshalb kehrt der Film am Ende nochmals zurück zu den Bildern, die er schon am Anfang zeigt.
Ein weiteres schönes und berührendes Detail wird ganz nebenbei erzählt. Der Vater versuchte, seiner Tochter französisch beizubringen, die Sprache seiner Jugend. Doch wirklich gelernt hat die Tochter die Sprache leider nicht, geblieben ist ihr nur der allabendliche Gute-Nacht-Gruß „Bonne Nuit Papa“.
Ob kulturelle Unterschiede oder persönliche Haltung, gesellschaftliche Gepflogenheiten oder politische Umstände, der Film lässt keine dieser Ursachen außer Acht. Er bleibt dabei gelassen und suchend, nimmt den Zuschauer auf seine Reise mit und lässt ihn ebenso an vergeblichen Versuchen teilhaben. Am Schluss bleibt ein Gefühl von Zärtlichkeit und Melancholie, Verständnis für die Suche und ihr Scheitern, obwohl sie dennoch sinnvoll und immer liebevoll war.
Der Regisseurin ist ein berührendes Portrait ihres Vaters und der Zeit gelungen, das bei allen zwangsläufigen Auslassungen so umfassend wie möglich ist. Damit erreicht sie über das Persönliche hinaus eine allgemein gültige, menschliche Dimension, die dem Film seine Qualität gibt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)