BRUDER SCHWESTER HERZ von Tom Sommerlatte erzählt stimmungsvoll von Franz und Lilly, deren enge Geschwisterbeziehung an den ungleichen Ansprüchen ans Leben zu zerbrechen droht.
Die Rinderfarm des Vaters am Laufen zu halten, war für Franz und Lilly bisher ihr Leben. Doch während Franz völlig damit zufrieden ist, mit den Erträgen der maroden Farm noch einigermaßen über die Runden zu kommen, kann sich Lilly immer schwerer mit der Perspektivlosigkeit ihrer Existenz abfinden. Lilly will mehr im Leben erreichen - und sie will auch, dass ihr Bruder Franz, mit dem sie schon immer ein sehr inniges Verhältnis verbindet, mehr möchte. Als Lilly realisiert, dass dies nie geschehen wird und sie eines Tages auf den charismatischen Sänger Chris trifft, entscheidet sie sich, die Farm zu verlassen. Franz bleibt zurück, enttäuscht und wütend. Als Lilly dann zurückkehrt, scheint der Graben zwischen den beiden Geschwistern zu tief. Und nie ausgesprochene Gefühle brechen sich in destruktiver Weise Bahn. Mit seinem zweiten Film BRUDER SCHWESTER HERZ beweist Regisseur Tom Sommerlatte erneut, wie gut es ihm gelingt, Stimmungen abzubilden. Nicht nur zwischenmenschliche Schwingungen, sondern auch die Atmosphäre eines Ortes und einer Landschaft. Wie ein Western wirkt die Geschichte streckenweise, wie Cowboys die Protagonisten, die ihre Gefühle schweigend in sich hineinfressen und nicht nur mit finsteren Blicken, sondern auch mit rauen und knappen Worten ihre Konflikte austragen. Das alles wirkt wie der Großstadtzivilisation entrückt, ebenso wie Franz und Lilly, die sich ihre eigene kleine Welt auf dem Land aufgebaut haben und miteinander zu einer dysfunktionalen Symbiose verschmolzen sind. Sebastian Fräsdorf und Karin Hanczewski beeindrucken in ihrem Spiel, das mit feinen Nuancen immer wieder die Grenze zwischen unschuldiger und inzestuöser Geschwisterliebe auslotet und in dem sie eine körperlich spürbare Spannung aufbauen. Auch der Rest des Ensemble überzeugt, allen voran Jenny Schily als die in Franz unglücklich verliebte Frau, die alles tun will, um Lillys Platz in der Familie einzunehmen, und Godehard Giese als Chris, der Lilly mit seinem Charme aus der Reserve lockt. Sommerlatte schreibt und inszeniert sämtliche Figuren komplex und rund, als mehrdimensionale Charaktere, fern von Stereotypen. Die Landschaft und das exzellent gewählte Setting werden von der Kamera als weitere Hauptfigur in Szene gesetzt, die Musik wird gezielt stimmungsgenau platziert, ebenso wie die pointieren Dialoge, die fast wie Ergänzungen zu den vielsagenden Blicken wirken. BRUDER SCHWESTER HERZ ist junges deutsches Kino, wie es sein soll: Überraschend, frisch, gradlinig und stimmungsvoll.
Jurybegründung:
Autor und Regisseur Tom Sommerlatte - in enger Zusammenarbeit mit seiner Schwester Iris als Produzentin - blieb dem Erzählstil seines Debüts IM SOMMER WOHNT ER UNTEN im besten Sinne treu: Im Mittelpunkt der Geschichte konzentriert sich der Blick auf die Charakterisierung seiner Protagonisten, ihre Entwicklung und vor allem die Dialoge. Trotz der Tatsache, dass hier nicht allzu viel Spektakuläres geschieht und auf große Action verzichtet wird, kann das präzise Drehbuch „aus dem Inneren heraus“ eine gute Spannung aufbauen. Die mit Sicherheit beabsichtigte Ruhe und Langsamkeit bei der Erzählung gilt auch der Referenz an die kultische Tradition des amerikanischen Western. Unwillkürlich kommen auch die Parallelen zu Bryan Adams legendärem Song „Summer of ’69“ mit der Textzeile „Standin‘ on your mama’s porch“. In diesem Film hat „papa’s porch“ eine ähnlich wichtige Bedeutung. Der durch einen Unfall behinderte Vater des Geschwisterpaares Franz und Lilly verbringt seine Tage von morgens bis abends auf der kleinen Veranda des Gutshauses seiner Rinderfarm. Eine Rinderfarm, die nun die Geschwister zusammen mit einem Hofladen betreiben, immer am Rande der Pleite. Vater Franz, der nach seinem Unfall von seiner Frau verlassen wurde, ist der weitgehend stumme Beobachter des Geschehens vor und auf dieser Veranda. Franz und Lilly sind seit ihrer Kindheit innig verbunden und genießen das freie „Country- Leben“ oft auch auf dem Rücken ihrer Pferde. Charakterlich sind sie doch sehr verschieden. Franz, der sich auch rührend um seinen behinderten Vater kümmert, macht sich absolut keine Gedanken um seine Zukunft und auch die der hoch verschuldeten Farm. Er schwebt zwischen seiner Lieblingskneipe mit Billardspiel und der Arbeit im Stall und mit den Rindern. Irgendwie ist der Mittdreißiger ein großer Junge geblieben, der sich mit Blick auf die Frauen auch sehr beziehungsresistent sieht. Schwester Lilly ist der stärkere, auch klügere Geschwisterteil und bemüht sich mit verschiedensten Ideen, die Farm zu retten. Ob sie mit ihrem Leben restlos zufrieden ist? Eher nein! Als sie bei einem Konzert den Musiker Chris kennenlernt, beginnt sie nicht nur eine Beziehung sondern sieht dabei auch die Chance, erstmals aus dem Land- und Cowgirl - Leben auszubrechen. Franz, der sein Leben auf einmal auf den Kopf gestellt sieht, reagiert chaotisch voller Eifersucht und Verzweiflung, seine geliebte Lilly zu verlieren. Die reife Sophie, die nach dem Weggang der Mutter die Arbeit im Hofladen und im Haushalt übernommen hatte, versucht die große Chance zu nutzen, das Kommando über die Farm und den von ihr angebeteten Franz zu bekommen. Dieser wiederum versucht durch diese Liaison Lilly zu provozieren. Wird Lilly die Farm mit Chris verlassen oder kann Franz doch noch „seine“ Welt retten?
Wie schon zu Beginn beschrieben, liegt die Stärke des Films in der Zeichnung der Charaktere und ihre gute Führung durch die Regie. Die dramaturgische Spannung baut das kluge Drehbuch mit stimmigen und knappen Dialogen und durch das sich ständig steigernde Spannungsfeld der so unterschiedlichen Protagonisten auf. Blicke und Gesten ersetzen viele Worte. Die Besetzung der Charaktere ist zielgerecht. Wolfgang Packhäuser als Vater Heinz, Jenny Schily als Sophie und Godehard Giese als liebevolle Karikatur eines Hippie-Musikers spielen ihre Rolle überzeugend. Sebastian Fräsdorf als Franz und Karin Hanczewski als Lilly gelingt ebenso überzeugend, ein Geschwisterpaar darzustellen, das so unverbrüchlich verbunden und doch so unterschiedlich im Charakter ist. Das Wechselspiel der Gefühle und der große Atem und die Schönheit der Landschaft, die von einer perfekten Kamera eingesogen wurde, machen diese teils dramatische und teils auch erheiternde Geschichte zu einem schönen Kinoerlebnis außerhalb des sonst Üblichen. Ein besonderes Lob verdienen auch die stringente Montage und die dezente musikalische Untermalung.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)