COCO AVANT CHANEL zeigt den Beginn der Karriere der jungen Französin vom Waisenhaus bis zur Grande Dame der Haute Couture und fokussiert ihre Geschichte als spannende Charakterstudie auf die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Die opulenten Bilder von Anne Fontaine werfen einen einfühlsamen Blick auf das eigenwillige, zielstrebige und teilweise auch kühl berechnende Wesen der später so mächtigen Ikone der Modewelt. Mit detailgetreuer Ausstattung sowie wunderbaren Settings in den unterschiedlichsten französischen Milieus Anfang des 20. Jahrhunderts eröffnet sich ein aufschlussreiches Gesellschaftsportrait. Grandios auch Hauptdarstellerin Audrey Tautou bei diesem Drahtseilakt um Selbstverwirklichung gegen alle Konventionen. So stilvoll und unvergänglich wie Chanels Mode.
Jurybegründung:
Angesichts des Votums der vorherigen FBW-Jury, ist vorab eine Anmerkung zur Kommunikationssituation erforderlich, in der sich die Rezeption des Films vollzieht. Die Entscheidung der französischen Regisseurin Anne Fontaine, im Rahmen der künstlerischen Freiheit ihr subjektives Bild der Protagonistin in einem für die Talententfaltung prägnanten Zeitraum zu zeichnen, ohne deren spätere Beziehung zu Nationalsozialisten darin zur Sprache zu bringen, wurde von der Jury als legitim angesehen. Aus deutscher Rezeptionsperspektive besteht zwar die historische Verpflichtung, politische Korrektheit auch im künstlerischen Diskurs einzufordern. Andererseits steht es einer jungen Generation zumal in Frankreich frei, den Fokus künstlerischer Werke auf Aspekte zu richten, die frei von derartigen geschichtlichen Belastung sind. Hinzukommt die Tatsache, dass in unserer freien, aufgeklärten Gesellschaft die problematischen Gesichtspunkte ohnehin durch Kritiker begleitend zur Sprache gebracht werden.
Auch der Adressatenkreis dieses Arthouse-Films verfügt sicherlich über genügend Kompetenz und Mündigkeit, um sich über leicht zugängliche Informationsressourcen ein Problembewusstsein zu verschaffen und die späteren Stationen der biografischen Entwicklung angemessen zu beurteilen. Die vermeintlichen Defizite des Films können also ohne Schwierigkeiten extern ausgeglichen werden.
Der Film selbst erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Biografie zu sein, sondern versucht, den ‚Beginn einer Leidenschaft‘ für Ästhetik, Mode, Haute Couture - auch der tragisch endenden Leidenschaft zu Boy Capel - zu erkunden. Mit kulturanalytischem Blick geführt, lässt die Kamera wichtige Episoden Revue passieren. Das Kind kommt ins Kloster und lernt puristische Strenge kennen. Später kann Coco in Kaschemmen ihre Beobachtungen machen. Beim Proben der Auftritte erkennt sie, wie wichtig Kostüme sind, die körperbetont sprechen und zugleich Bewegungsfreiheit gewähren. Gezeigt wird, wie sie als Näherin handwerkliches Geschick erwirbt.
Auch die glamouröse und elegante Ästhetik der wohlhabenden Gesellschaft wird ihr zugänglich als sie mit Étienne Balsan eine Liaison eingeht. Sie lässt keine Gelegenheit aus, ihr Formen- und Farbenrepertoire aufzufüllen. Auf der Rennbahn taxiert Coco die Besucher, die beispielsweise ihr ‚Tafelsilber‘ mit sich herumschleppen oder ins Korsett eingesperrt sind. Mit wacher Intelligenz und seismografischen Sinnen nimmt sie beim Ausflug an der Küste Lokalkolorit und gesellschaftliche Ereignisse im Casino auf und lässt diese ästhetischen Fänge in ihren späteren Kreationen aufleben.
Überzeugend zeigt der Film wie Coco die ‚feinen Unterschiede‘ (Bourdieu) erkennt und zu spüren bekommt. Es fehlt nicht an treffenden Bon Mots (z. B.: ‚Nur Schwarz betont die Augen‘ oder ‚Stil ist es, alle Stile zu vergessen‘). Nicht nur die Dialoge sind zu würdigen, sondern die darstellerischen Leistungen von Audrey Tautou und ebenso von Benoît Poelvoodre sind brillant. Die Wendepunkte sind wirksam gesetzt und die komplexe Handlung ist feinfühlig komponiert. Sehenswerte Schauplätze und gut ausgewählte bzw. eindrucksvoll arrangierte Ausstattungsgegenstände sind eine Augenweide.
Der Spannungsbogen der Geschichte wird durch die Liebesbeziehung mit Boy Capel geschickt gesteigert. Es gelingt der souveränen Inszenierung Empathie zu den Protagonisten hervorzurufen, Emotionen, aber gleichfalls auch rationale Reflexionen anzuregen. Zahlreiche Bilder, die komplex arrangierten Gemälden gleichen (schwarz und rot in der Pariser Nähwerkstatt) beeindrucken den Betrachter.
In einen Wachtraum versunken, sitzt schließlich die erfolgreiche Chanel auf den Stufen der Modebühne und wird bedeutungsvoll gespiegelt. Diese Rückblende auf entscheidende Schlüsselszenen ihrer erwachenden Leidenschaft bildet einen plausiblen Schluss. Dem künstlerisch rundum gelungenen Film wollte die Jury das Prädikat besonders wertvoll nicht versagen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)