FBW-Pressetext:
Frankreich, 1963: Anne ist 23 Jahre alt und studiert Literatur. Ihr Traum ist es, zu unterrichten. Als sie ungewollt schwanger wird, entscheidet sie sich gegen das Kind. Doch die Gesetze und Konventionen der Zeit machen es Anne schwer, eine selbstbestimmte Entscheidung über ihr Leben zu treffen. Der Spielfilm von Audrey Diwan erzielt seine erzählerische Wucht über die autobiografische Vorlage, eine grandiose Darstellerinnenleistung und sein fesselndes und erschreckend zeitloses Thema.
Man spürt, dass die Geschichte, die die Regisseurin Diwan zusammen mit ihrer Co-Autorin Marcia Romano in DAS EREIGNIS erzählt, auf einer autobiografischen Erzählung beruht. Sowohl die vermittelte Zeit, als auch das Verhalten der Figuren, ihre Aussagen und ihre Konflikte - all das wirkt lebensnah und authentisch. Und dazu erstaunlich zeitlos - auch und gerade in Bezug auf die Ereignisse, die sich aktuell weltweit abspielen. Anne, grandios verkörpert von der Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei, gerät zunehmend unter Druck: In einer Zeit, in der Schwangerschaftsabbrüche in Frankreich gesetzlich verboten sind und von der Gesellschaft verurteilt werden, würde sie mit einer Entscheidung für ihr Kind ihre gesamte berufliche Zukunft aufs Spiel setzen - und vor allem das verlieren, was sie sich als Kind einer Arbeiterfamilie hart erarbeitet hat: Ihr Recht auf Selbstbestimmung. Und so kämpft Anne. Entschlossen und mit radikaler Härte, auch gegen sich selbst. Annes innere Konflikte werden durch die Kameraarbeit des kongenialen Laurent Tangy eindrucksvoll in Szene gesetzt: Er folgt Anne auf Schritt und Tritt. So wird es den Zuschauer*innen ermöglicht, Anne auf ihrem Weg zu beobachten, sie zu begleiten und zu ihrer Komplizin zu werden. Mit ungeschönt realistischen Blick erzählt die Regisseurin Audrey Diwan in ihrem Film eine Geschichte über Emanzipation, die eigene innere Stärke und weibliche Selbstbestimmung - ohne dabei jemals die Empathie für ihre Hauptfigur zu verlieren. Das macht ihr Drama zu einem komplexen, vielschichtigen und eindrucksvollen Plädoyer für das Recht der Frau am eigenen Körper.
FBW-Jury-Begründung:
Obwohl er zu Beginn der 60er Jahre spielt, ist Audrey Diwans DAS EREIGNIS ein absolut gegenwärtiger Film. Das betrifft nicht nur sein Thema, sondern vor allem die Art und Weise, in der die Regisseurin es angeht. Der Film beruht auf einer autofiktionalen Erzählung der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, die darin die Erfahrung einer illegalen Abtreibung im Frankreich der frühen 1960er Jahre schildert. Anamaria Vartolomei spielt Anne, eine junge Studentin in der Provinzstadt Angoulême, die sich aus einer einfachen Herkunft heraus die Möglichkeit eines Hochschulstudiums erarbeitet hat. Die ungewollte Schwangerschaft droht all ihre Lebenspläne und das bisher Erreichte zunichte zu machen. Der Film heftet sich gleichsam an die Fersen von Anne, während sie von Station zu Station läuft auf der Suche nach einer „Lösung“. Abtreibungen waren damals in Frankreich nicht nur verboten - sie waren auch so stark tabuisiert, dass im ganzen Film kein einziges Mal das Wort fällt.
Diwans Film beeindruckt durch die Intensität, mit der er die Notlage Annes schildert, ohne dabei je pathetisch oder sentimental zu werden. Mit seiner quasi-dokumentarischen Herangehensweise fächert er zugleich die verschiedenen Haltungen in der damaligen Gesellschaft auf: die vorgebliche Unschuld von Anns Mitbewohnerinnen, die ihrer wohlmeinenden Freunde, die aber die Verantwortung scheuen, die der teils kaltblütigen Menschen, die aus ihrer Notlage Profit schlagen. Wobei es der Regisseurin gelingt, stets genau im Blick zu behalten, dass es hier um das Erleben einer Frau geht, um ihre Sichtweise, ihre Gefühle und Erfahrungen.
Mit seiner recht bündigen Dauer von 100 Minuten entwickelt der Film eine spannende, sich steigernde Wucht, die seinem Anliegen große Wirkung verleiht. Der Film führt exzellent vor Augen, dass die Zeiten des absoluten Abtreibungsverbots und damit der Praxis illegaler und deshalb hochriskanter Abbrüche noch nicht sehr lange her sind. Dazu trägt bei, dass Anne als Figur den modernen Frauenfiguren von heute sehr nahe steht: Sie ist keine Frau, die ihre Weiblichkeit herauskehrt, sondern eine selbstbewusste Studentin, die ihr Studium ernst nimmt und die, von einem starken Wunsch nach Selbstbestimmung getrieben, auch ihre sexuellen Erfahrungen danach ausrichtet.
Die Jury bewunderte ausdrücklich die effektive und ökonomische Erzählweise, in der jede Sequenz ihre Funktion hat und jede Nacktszene inhaltlich und nicht voyeuristisch begründet scheint. Sämtliche formalen Elemente greifen stimmig ineinander: der Handkamera-Stil und das 4:3-Format, die Kostüme und Frisuren, das Provinz-Setting in Angoulême - nichts davon ist ausgestellt oder übertrieben aufwändig, alles kommt zur subjektiv geprägten Erzählung von Anne zusammen, deren reale Lebenswelt - sie trägt eben die immer gleichen vier Blusen - geschildert wird. Ohne sie mit Gefühlen zu überfrachten, macht der Film ihr Verhalten sehr nachvollziehbar. Man begreift und versteht ihre Entscheidung, und respektiert sie.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)