Das Experiment: Packender Psychothriller mit großartiger Besetzung über eine für ein Experiment nachgestellte Gefängnissituation, die in einer Katastrophe endet.
Mit dem bisweilen unerträglich spannenden, mit eiskalter Präzision realisierten Psychothriller „Das Experiment“ legt TV-Routinier Oliver Hirschbiegel ein elektrisierendes Kinodebüt vor, an dem sich einheimische Produktionen künftig messen werden lassen müssen: Basierend auf Mario Giordanos Roman „Black Box“, der das berühmt-berüchtigte Stanford-Experiment der frühen siebziger Jahre dramatisiert, erzählt Hirschbiegel die Geschichte eines auf 14 Tage angelegten Verhaltensexperiments mit 20 willkürlich ausgewählten Männern, das nach nur zwei Tagen aus dem Ruder zu laufen beginnt und in eine Katastrophe mündet - ein Film mit überragender Ensembleleistung, der bis zur letzten Konsequenz kompromisslos bleibt und den Ursachen von Gewalt unbeirrbar auf den Nerv fühlt, wie schon lange kein Film mehr.
Will man Referenzpunkten aus der Filmgeschichte nennen, man sieht sich genötigt, Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ und Romeros „Zombie“ ins Feld zu führen. Nicht weil sie unmittelbare Ähnlichkeiten mit Hirschbiegels emotionaler Tour de Force in das Trümmerfeld menschliche Seele hätten. Vielmehr haben die drei Filme bei der Ergründung des Verhaltens von Menschen in Extremsituationen eine fast spürbare Intensität und Anspannung, eine Bereitschaft, bei der Darstellung ihres Sujets bis zum Äußersten zu gehen, gemein. Wo sich Pasolini der Bestie Mensch allerdings mit einer Metapher über den Faschismus nähert und Romero die Mittel eines überdrastischen Splatterspektakels nützt, hält sich Hirschbiegel ans Regelwerk eines Thrillers. Wenn sich die Spannung im letzten Drittel ins Unerträgliche zuspitzt, weil man weiß, dass die noch wenige Tage zuvor ganz normalen Menschen längst zu allem fähig sind, dann dienen die Genreparameter als Rettungsanker, um von der finalen Welle der Gewalt nicht geschluckt zu werden.
Per Zeitungsannonce werden 20 Männer gesucht, die bereit sind, an einem zweiwöchigen Experiment teilzunehmen. Es handelt sich um eine simulierte Gefängnissituation, die ständig von Videokameras und einem Team von Wissenschaftlern kontrolliert wird: Acht der Männer werden als Wärter eingeteilt, zwölf als Gefangene, gewandet lediglich in einen sackartigen Überwurf, reduziert auf eine Nummer. Die einzige Vorgabe für die Wärter ist es, für die Einhaltung der Regeln zu sorgen - ohne Einsatz körperlicher Gewalt. Unter den Gefangenen ist der Taxifahrer Tarek (Bleibtreu in einer Rolle, die ihn mühelos als mutigsten Schauspieler seiner Altersklasse etabliert), der allerdings nicht mit offenen Karten spielt: Tatsächlich sieht er in dem Experiment die Gelegenheit, wieder als Journalist Fuß zu fassen. Im Dienste seiner Story agiert er von Beginn an als Agent provocateur, benimmt sich renitent und widersetzt sich allen Befehlen. Die Wärter, wie die Gefangenen eine bunt zusammengewürfelte Truppe, sind überfordert und sehen sich nur mit Sanktionen in der Lage, die Situation zu kontrollieren. Wie sich schließlich mit zwingender Logik Gewalt Bahn bricht, ist absolut hypnotisch. Wenn sich die Situation von verbaler Härte über Psychofolter und Erniedrigung zum Krieg mit allen gegebenen Mitteln, in dem es schließlich nur noch ums nackte Überleben geht, steigert, kann man die Augen nicht von dem Film nehmen - auch weil man weiß, dass man wohl auch selbst zu den Untaten fähig ist, die sich mit bisweilen drastischer Deutlichkeit auf der Leinwand abspielen.
Hirschbiegel ist sich seiner Verantwortung als Filmemacher in dieser beklemmenden Psychostudie bewusst - wie auch der Ironie, dass er als Regisseur eine ähnliche Rolle einnimmt wie die Wissenschaftler beim Experiment. In diesem doppelbödigen Konstrukt über die erschreckend dünne Schutzwand der Zivilisiertheit alle Fäden in der Hand zu halten, ist eine große Aufgabe. Der Filmemacher bewältigt sie souverän. Ohne Fehlschritt eilt er von einer packenden Szene zur nächsten: Wenn Bleibtreu schließlich von seinen Peinigern in eine eigentlich nur zur Drohung aufgestellten schwarzen Kiste eingesperrt wird und sich im Dunkel mit steigender Panik freikämpfen muss, ist der Gipfel erreicht. Ein wahnsinniger Moment. Obwohl die Handlung zwangsläufig auf einen Handlungsort beschränkt ist - eine gewisse Klaustrophobie ist spannungsfördernd - wirkt das Martyrium der zwölf Gefangenen dank eines genialen Kniffes nie eingeengt oder monoton. In der Nacht vor Beginn des Experiments hat Bleibtreu eine fast beiläufige Affäre mit einer selbstmordgefährdeten Frau, die in sein Taxi gefahren ist. Wenn seine Gedanken in stillen Augenblicken in der Zelle zur Erinnerung an sie abschweifen, öffnet sich der Film auf wundersame Weise. Tatsächlich erhält Hirschbiegel so eine wunderbare Balance aus Realität und Fantasie, die die harten Tatsachen des Überlebenskampfes nur noch extremer erscheinen lassen. Schließlich darf die fabelhafte Besetzung, aus der neben Bleibtreu stellvertretend Christian Berkel als enigmatischer Zellengenosse und Justus von Dohnanyi als Wärter im Machtrausch genannt werden sollen, nicht unerwähnt bleiben. Ein Film aus einem Guss, der den Zuschauer mit der gleichen vollen Wucht trifft, mit der Maren Eggert in Moritz Bleibtreus Taxi donnert. Unvergesslich. ts.