Keiner der Eltern, die in der Selbsthilfegruppe sitzen, hat die Gefahr kommen sehen. Die Töchter hatten allesamt ein behütetes Familienleben, sie hätten immer mit ihren Eltern sprechen können, wenn es ein Problem gibt, ihnen fehlte es an nichts. Und doch ist es passiert. Zum Beispiel bei Sonia. Die 17-Jährige wurde am Flughafen gestoppt, bevor sie nach Syrien fliehen konnte, um dort als Anhängerin des IS ein Attentat in Frankreich zu planen. Nun soll Sonia „entradikalisiert“ werden - doch die junge Frau weigert sich, ihr neu entdecktes Weltbild zu verraten. Und dann gibt es da noch Mélanie, die von ihrer Mutter Sylvie allein erzogen wird. Sie hat Freunde, ist gut in der Schule, liebt ihr Cello. Doch dann stirbt ihre Großmutter, mit ihrer Mutter hat sie ständig Streit und sie fühlt sich allein. Bis sich über Facebook ein junger Mann bei ihr meldet, der sie in ihren Gedanken genau zu verstehen scheint. Und der ihr verspricht, er sei der Prinz, der sie retten würde. Doch nur dann, wenn sie sich ganz ihm und seiner Religion verspricht. Als Sylvie bemerkt, wie ihre Tochter sich verändert, ist sie entsetzt. Doch was kann sie tun, wenn Mélanie sich nach und nach aus ihrer gemeinsamen Welt entfernt? DER HIMMEL WIRD WARTEN von Marie-Castille Mention-Schaar erzählt auf sensible Art ein hochaktuelles Thema. Sonia und Mélanie, überzeugend dargestellt von Noémie Merlant und Naomi Amarger, sind sehr unterschiedlich und doch vereint in ihrer Sehnsucht nach einem Halt, den beide im Leben vermissen. Dabei werden die Probleme der Teenager vom Film nicht heruntergespielt, der Film nimmt seine Figuren ernst und urteilt nicht. Auch nicht über die Eltern, die in ihrer ganzen Hilflosigkeit und Ohnmacht gezeigt werden und sich immer wieder die Frage stellen, was man hätte tun können, um die Katastrophe zu verhindern. Der Film moralisiert nicht, gibt keine Lösung vor, lädt aber zu Diskussionen und Reflexionen ein. Auf geschickte Weise verknüpft Marie-Castille Mention-Schaar die Geschichte einer fortschreitenden Verführung mit dem Weg zurück in die Realität und dem Begreifen der Wahrheit. Durch das Erzählen verschiedener „Stadien“ einer religiösen Radikalisierung erhält die Geschichte eine spannende dramaturgische Klammer, an deren Ende sowohl ein desillusionierendes wie auch hoffnungsvolles Ende steht. Die Kamera ist immer nah bei den Protagonisten, sodass auch der Zuschauer den Figuren immer sehr dicht folgen kann. DER HIMMEL WIRD WARTEN ist ein klug reflektierter und gesellschaftlich hochrelevanter Film, der für den Umgang mit einem Problem sensibilisiert, welches auch durch die Verbreitung im Rahmen sozialer Netzwerke immer stärker um sich greift.
Jurybegründung:
Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar greift in DER HIMMEL WIRD WARTEN ein hochbrisantes Thema auf. Wie können Töchter, die sich, von ihren Eltern unbemerkt, radikalisiert haben und bereit sind in den Dschihad zu ziehen, zurückgewonnen werden? Die Gespräche einer Gruppe verzweifelter Eltern mit Dounia Bazar ziehen sich als roter Faden durch das dokumentarisch anmutende Drama. Die Expertin Bazar, die auch im echten Leben die Opfer von IS Menschenfängern berät, trägt viel zum aufklärerischen Mehrwert des Films bei.
Im Mittelpunkt stehen zwei Mädchen aus gut situierten Mittelstandsfamilien. Die 17jährige Sonia wird unter dem Verdacht verhaftet, ein Attentat geplant zu haben. Das Mädchen ist überzeugt, dass nur ihr Einsatz im Dschihad ihre „ungläubigen“ Eltern und ihre kleine Schwester ins Paradies bringen könne. Unter strengen richterlichen Auflagen - kein Internet, kein Telefon, ständige Bewachung - darf Sonia im Hausarrest bei ihrer Familie bleiben.
Während Sonia bereits radikalisiert ist, wird am Beispiel der 16jährigen Mélanie der langsame Sog der Manipulation gezeigt. In einem Internet-Forum trifft sie auf einen jungen Mann, der sensibel auf ihre Trauer über den Tod der Großmutter eingeht, ihr Komplimente macht, ihr Filme von bei Bombenangriffen getöteten islamischen Kindern zeigt, und der sie schließlich heiraten will. Die Mechanismen der IS-Anwerbung funktionieren bei Mélanie, die sich immer mehr aus ihrem bisherigen Leben zurückzieht, zum Islam konvertiert und bereit ist nach Syrien zu gehen.
Das doppelte Ende ist traurig und hoffnungsvoll zugleich. Während Sonia allmählich den Weg aus dem Fanatismus findet, wird Mélanies Mutter wohl vergeblich auf die Rückkehr der Tochter hoffen. „Keine Minderjährige ist bisher aus Syrien zurückgekommen“ weiß Dounia Bazar.
Der Film überzeugt durch die sensible und differenzierte Behandlung des heiklen Themas ohne erhobenen Zeigefinger und einfachen Lösungen. Bei den beiden Protagonistinnen hätte sich die Jury ein wenig mehr Charaktertiefe gewünscht, insbesondere die Darstellerin der Mélanie konnte die Jury nicht durchweg überzeugen. Indem die Kamerabilder häufig verengt wirkende Räume evozieren, wird die Verengung der Lebenswelt der beiden Mädchen einleuchtend visualisiert. Die dezent eingesetzte Musik ist stimmig, hämmernd und laut wird es bei den realen Videoaufnahmen. DER HIMMEL WIRD WARTEN ist ein wichtiger Film in der aktuellen Debatte und hat nach Meinung der Jury das Prädikat „besonders wertvoll“ verdient.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)