Er hat sich selbst gelost. Er hätte es nicht tun müssen, als Gewerkschaftsfunktionär, aber nun hat er sich gezogen, nun ist er einer der 20, die entlassen werden. Ein weiterer Hafenarbeiter, der den schleichenden Niedergang von Marseilles einst blühendem Umschlagplatz und Arbeitgeber, dem Hafen, markiert. Immerhin ist Michel etwas älter, hat sich einiges erarbeitet, steht kurz vor der Rente und kann von der Entschädigungszahlung leben; zumal seine Frau Marie-Claire noch etwas dazuverdient als Altenpflegerin. Jetzt hat er Zeit, sich um die Enkel zu kümmern, und für den Sohn die Pergola zusammenzuschweißen. Nein, unglücklich ist Michel nicht, er weiß, was er, was die Gewerkschaft geleistet haben, er ist ein alter Kämpfer, der für seine Ideale gefochten hat, der sich aus kleinen Verhältnissen einen ausreichenden Wohlstand erschaffen hat, der etwas Ruhe verdient hat.
Ruht er sich auf seinen Lorbeeren aus? Ist da etwas Selbstgerechtes in ihm? Weil er es nicht mehr nötig hat zu arbeiten, im Gegensatz zu anderen? Hat er die Reise zum Kilimandscharo verdient, die ihm und Marie-Claire die Gäste zum 30. Hochzeitstag geschenkt haben, die Tickets und das viele Geld? Wenn andere, die wie er auch entlassen wurden, am materiellen und sozialen Minimum kratzen? Michel ist glücklich, seine Frau ebenfalls, Schwägerin und Schwager ebenfalls, wenns auch beim Kartenspiel kleine Reiberein gibt als die Tür aufplatzt und zwei Maskierte einen brutalen Überfall verüben.
Perspektivwechsel. Wir folgen Christophe, einem der Verbrecher, Ex-Kollege von Michel, ebenfalls arbeitslos, ebenfalls einer der 20 Geschassten. Er muss sich um seine jungen Brüder kümmern, die Mutter wollte nie Mutter sein; er braucht Geld für Miete und Essen. Und er bringt mit seiner Tat, mit der Gewalt, dem Hohn, dem blanken Spott über den hilflosen Michel dessen Weltsicht ins Wanken. Beide stehen auf derselben Seite, auf der der Arbeiter, die Rechte haben, für die sie kämpfen müssen und beide sich doch verschieden, der Überfall ist eine Schlacht im Klassenkampf innerhalb der Arbeiterschicht. Sind Michel und Marie-Claire bourgeois geworden?
Regisseur Robert Guédiguian blickt auf die Verhältnisse, er ist ein Linker, bekennender Marxist; und er drehte einen Film, der die realen sozialen Umstände in eine leichte, tiefsinnige Erzählung verwandelt. Nach Jahren von Sarkozy, von Krisen, von wirtschaftlichem Verfall ist in Frankreich offenbar die Zeit gekommen, soziale Märchen zu inszenieren. Märchen wohlgemerkt nicht im Sinn weltabgewandter harmloser Kindergeschichten, sondern Märchen in dem Sinn, den sie ursprünglich hatten: vereinfacht und zugleich komplex die Welt zu erklären mit eigenen, mythischen Mitteln, die aus dem Irrealen kommen, aber dennoch wirklich sind. Kaurismäki hat in einer anderen französischen Hafenstadt freilich mit ganz anderem Humor etwas Ähnliches geschaffen.
Der Schnee am Kilimandscharo ist eine Utopie, eine Hoffnung, ein Wunschgedanke und doch nicht naiv, leichtgläubig, unrealistisch. Es geht um Werte, Werte, die für ein Zusammenleben wichtig sind und die nicht verloren gehen dürfen. Es geht darum, füreinander da zu sein, die andere Perspektive mitzudenken, es geht um gegenseitige Hilfe und Selbstlosigkeit, es geht um gelebte Ideale und darum, dass man nicht alles für selbstverständlich hält.
Ein wunderbarer, warmherziger, witziger Film ist daraus geworden, einer, der glücklich macht, weil er nicht agitatorisch für diese Werte plädiert, sondern sie einfach zeigt; weil er damit die Ideale von Menschlichkeit in der Seele berührt, auch wenn er märchenhafte Utopie ist.
Michel und seine Marie-Claire sind Helden, Helden im alltäglichen Miteinander wie sie beide genau das richtige tun, unabhängig voneinander, wie sie stets im Einklang sind mit sich selbst sind, im Reinen mit sich und den anderen: das ist eine wunderschöne Liebesgeschichte. Am Kilimandscharo ist es herrlich, aber man kann auch das Hier und Jetzt zu dem Ort machen, an dem man bleiben will.
Fazit: Wenn es so etwas gibt, dann ist dies eine realistische Sozialutopie, erzählt als Komödie.