Manche Filme sind wichtig, denn sie schaffen Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema, entreißen es dem Vergessen und sorgen so bestenfalls für ein erweitertes Bewusstsein des Publikums: Ein Bewusstsein für die Vergangenheit, für Fehler, für das Fehlverhalten eines ganzen Volkes. "Der Verdingbug" ist ein solcher Film. In der Schweiz enorm erfolgreich, behandelt er eines der dunkelsten Kapitel des Landes. Das Verdingwesen, das bis in die frühen 1970er Jahre bestand, war ein öffentlich gefördertes Programm zur Unterbringung von Waisenkindern. In der Praxis glich das Verdingwesen eher Leibeigenschaft, Menschenhandel und organisiertem Kindesmissbrauch. Wer Waise war, Halbwaise, Scheidungskind oder auch nur Kind einer alleinerziehenden Mutter wurde seiner Wurzeln entrissen und zum Arbeiten in Bauernhöfe gesteckt - oftmals vermittelt von der Kirche. Die Bauern, die das Kind beherbergten, erhielten Pflegegeld vom Staat, das Kind nichts außer karger Kost und ärmlicher Unterbringung.
Es ist nicht das Verdienst des Films "Der Verdingbug", dass dieses Thema nun dem Verschweigen entrissen wird. Regisseur Markus Imboden kann sich aber anrechnen lassen, dass er diesem Thema eine endgültige Form gegeben, dass er den Verdingkindern - "basierend auf 100.000 wahren Geschichten", wie es auf dem Filmplakat heißt - eine Stimme gegeben hat. Jenen, die ihrer Kindheit - und oft genug ihrer Familie - entrissen, die zu reinen Werkzeugen verdinglicht worden waren.
Imbodens Film ist kraftvoll, packend, mitreißend. Er lässt den Zuschauer von Anfang an nicht mehr los. Denn er blickt nicht belehrend von oben herab auf die Verding-Unwesen, sondern steigt mitten hinein. Zu Anfang wird ein Sarg aus einer Bauernstube getragen; der arme Kerl hat keine sechs Monate auf dem Bösigerhof ausgehalten. Sein Nachfolger wird Max, frisch aus dem Waisenhaus. Ihm werden wir folgen bei seinem Leben auf diesem Hof, mit dem Bauern, der schwer arbeitet und schwer trinkt, dem Sohn und Jungbauern, der misstrauisch und eifersüchtig Max das Leben schwer macht; vor allem aber mit der Bösigerin, die hart geworden ist in ihrem Leben am Rande der Armut, die zäh ist und kalt, unerbittlich gegen sich und andere; und die deshalb grausam und gefühllos geworden ist.
Katja Riemann - in den 90er-Jahren das Gesicht der deutschen Komödie - spielt die Bösigerin, und sie gibt in diesem Film alles. Ihre herausragende Darstellung der Bäuerin steht im Zentrum des Films. Die anderen Darsteller der junge Max Hubacher, Stefan Kurt oder Miriam Stein stehen ihr in nichts nach: Das Ensemble spielt stark, energisch, mit voller Präsenz; und tatsächlich bekommt man ein Gefühl für das Leben auf dem Hof, für die Arbeit, für das hartverdiente Brot.
Es sind Figuren, die sich über das Tun definieren, denn etwas anderes gibt es nicht in ihrem verhärmten, erstarrten Leben. Und die Darsteller spielen, als hätten sie nie etwas anderes getan als auf einem armseligen Berggehöft anzupacken. Verstärkt wird dieser Eindruck unbedingter Wahrhaftigkeit zumindest in der originalen Schweizer Fassung durch den rauen Dialekt, das Schwyzerdütsch des Berner Landes, das auch Katja Riemann lernte (auch wenn sie für die Schweizer Fassung nachsynchronisiert wurde). Die deutsche Sprachversion, in schweizerisch gefärbtem Hochdeutsch, muss dagegen natürlich verlieren; die Bilder des Films aber und sein intensiver Inhalt dürften auch in der Synchronisation stark genug sein.
Fazit: "Der Verdingbub" ist nicht nur ein eminent wichtiger Film, der dem Verdingwesen, das hunderttausenden Waisenkinder die Kindheit geraubt hat, eine starke Stimme entgegensetzt, sondern auch ein bemerkenswert großartiges Berg- und Heimatdrama jenseits jeden Kitsches, kraftvoll, spannend, intensiv und emotional.