DER VERLORENE SOHN von und mit Joel Edgerton erzählt die wahre Geschichte von Garrard Conley, der von seinem strenggläubigen Vater zu einer sogenannten „Reparativtherapie“ geschickt wird, um ihn dort von seiner Homosexualität zu „heilen“.
Jared ist 19 Jahre alt und er ist homosexuell. Doch sein Vater, der Baptistenprediger in einer bibeltreuen Umgebung in Arkansas ist, kann diese Wahrheit nicht akzeptieren. Für ihn ist klar: Sein Junge ist vom rechten Pfad Gottes abgekommen. So schickt er ihn zu einer sogenannten „Reparativtherapie“, wo er in mehreren Schritten wieder zu einem „normalen“ Menschen gemacht werden soll. Mehrere Wochen dauert der Kurs, abends darf Jared wieder ins Hotel zu seiner Mutter, die ihn begleitet. Sie spürt immer stärker, dass ihr Sohn unter der psychischen Misshandlung des radikalen Campleiters leidet. Und sie spürt auch, dass sie und ihr Mann Gefahr laufen, ihren Sohn, den sie doch lieben, für immer zu verlieren. In seiner zweiten Regiearbeit DER VERLORENE SOHN verfilmt Joel Edgerton die wahre Geschichte des Garrard Conley, der als einer von fast 1 Million US-Amerikaner eine solche Reparativtherapie durchlaufen musste, die selbst heute erst in einer Handvoll US-Bundesstaaten verboten ist. Der Film zeigt klar seine Haltung gegenüber dieser Methode, verurteilt aber nicht die Eltern, die in ihrer Verzweiflung und den Vorgaben ihres Glaubens gefangen sind und nur das Beste für ihren Sohn wollen. Nicole Kidman und Russell Crowe arbeiten die Ambivalenz der Figuren gekonnt und glaubwürdig heraus, beide leiden und wissen nicht, was wirklich richtig ist. Lucas Hedges überzeugt in seiner zurückgenommenen Art, die trotz aller Ruhe, die er ausstrahlt, auch die innere Angst und Unsicherheit erkennen lässt. Denn Jared leidet, vor allem unter der psychischen Gewalt des Leiter Sykes, den Edgerton selbst auf stoisch hartherzige Weise spielt. Die Bilder sind farbreduziert, die Tristesse der klinischen Umgebung spiegelt sich in der Landschaft und im Setting wieder. So kann auch der Zuschauer dem Camp nicht entkommen, was auch an der Kamera liegt, die vor allem für Momente ohne Worte genau die richtigen Bilder findet. So entwickelt DER VERLORENE SOHN eine stille und doch unfassbar eindringliche Kraft, mit der sich auch Jared am Ende des Films befreien kann, um endlich er selbst zu sein.
Jurybegründung:
Der deutsche Verleihtitel DER VERLORENE SOHN ist zwar meilenweit vom englischen Originaltitel BOY ERASED entfernt, nach Sichtung hat die Jury allerdings feststellen können, dass tatsächlich beide Titel funktionieren und auch Sinn ergeben.
Als Baptistenprediger Marshall Eamons erfährt, dass sein 18-jähriger Sohn Jared schwul ist, bricht für ihn eine Welt zusammen. Aus Verzweiflung tut er, was er bislang immer getan hat, wenn er nicht weiter wusste. Er folgt seinen religiösen Grundsätzen und wendet sich an die Kirchenältesten. Die raten zur „Conversion Therapy“, einer mehr als umstrittenen Behandlungsmethode der fundamentalen christlichen Kirchen Amerikas. Aus Liebe zu seinen Eltern willigt auch Jared ein, in das Umerziehungscamp zu gehen, auch wenn seine Persönlichkeit dort „erased“, also ausgelöscht werden soll. Regisseur Joel Eggerton hält sich in DER VERLORENE SOHN dicht an die autobiographische Vorlage Garrard Conleys aus dem Jahr 2016. Buch wie Film begehen nicht den Fehler, die Eltern als grausame Sektierer zu brandmarken. Immer bleiben die engen Familienbande spürbar, immer die Liebe zueinander fühlbar, letztlich auch als das, was es den Familienmitgliedern so schwer macht, mit den Gefühlen und Entscheidungen zu leben.
In der Filmdiskussion zeigte sich die Jury verblüfft von der Authentizität des Dramas. DER VERLORENE SOHN lebt von seiner unaufdringlichen-stillen Dramaturgie. 115 Minuten Spielzeit mögen zunächst als ein wenig lang empfunden werden, aber die Jury glaubt, dass diese Länge ausgehalten werden muss, um das ganze Leid der Familie greifbar werden zu lassen. Hilflosigkeit ist, wenn man so will, der rote Faden durch das Familiendrama. Heterosexualität scheint für alle Beteiligten zunächst alternativlos. Die ausgeprägte Religiosität im amerikanischen Bible-Belt verstellt der frommen Familie den Blick auf jedwede zeitgenössisch-lebensweltliche Perspektive zu ihrem traditionellen, religiösen Familienbild. Vater Marsall Eamons fürchtet um seinen Ruf, seine Frau um die Familie und Sohn Jared wagt nicht seinen Selbstfindungsprozess und ein Coming-out anzugehen.
Die Jury würdigt DER VERLORENE SOHN als einen sensiblen Film zum Gender-Thema, in dem Schuldgefühle eine nicht zu übersehene Rolle einnehmen. Jared fühlt sich seiner Familie verpflichtet, der Vater seinem Glauben und die Mutter ist hin- und hergerissen zwischen traditioneller Rolle und ihrem Gewissen. Der psychische Druck ist immens und immer muss seelischer Verzicht geübt werden, immer kommt etwas persönlich Wesentliches zu kurz. Dass das Szenario funktioniert, ist auch der hervorragenden Besetzung zu verdanken. Sogar in deren finstersten Momenten können die Zuschauer immer mit den Charakteren mitfühlen. Russell Crowe, der hier ganz uncharakteristisch unphysisch als Vater auftritt, und Lucas Hedges als selbstzweifelnder Sohn Jared agieren dabei mit so großer Glaubwürdigkeit, dass Nicole Kidman als genauso liebende wie wasserstoffperoxydblonde Mutter beinahe ein wenig blass in ihrer Rolle wirkt.
Dementsprechend herausragend sind auch die inszenatorischen Faktoren des Films. Regisseur Edgerton findet überaus adäquate Bilder für das stets unausgesprochene Leid der Familie. Die Charaktere umgibt beständig eine gewisse Schwermut, die der Film farblich mit einem leichten Graustich begleitet. Und auch der durchaus umfangreiche Score übt sich in zurückhaltenden, sanften Klängen. Das wirkt weder überzogen noch kitschig, sondern zielt genau auf den Punkt, weil es das zugrunde liegende Gefühl des Lebendig-begraben-seins unterstützt.
Die Jury würdigt DER VERLORENE SOHN als einen sehr sensiblen Film zum Gender-Thema. Das Drama erinnert gleichzeitig auch daran, dass es bis heute Einrichtungen gibt, die fragwürdige Therapieformen anbieten, die „umerziehen“ wollen und letztlich darauf abzielen, Persönlichkeit und damit Persönlichkeiten zu vernichten.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)