Der Regisseur Sönke Wortmann und sein Team haben Menschen in Deutschland aufgerufen, ihr Leben zu filmen. Einen Tag lang, am 20. Juni 2015. Die Menschen sollten erzählen, was sie bewegt, wovor sie Angst haben, was sie glücklich macht. Sie sollten ihren Alltag zeigen. Und zum Ausdruck bringen, was Deutschland für sie ist. Über zehntausend Filme wurden eingereicht. Herausgekommen ist ein Werk, das 102 Minuten lang ist, von fast 500 Filmemachern gedreht wurde und 2.000 Mitwirkende vor und hinter der Kamera zählt. Ein wahres Mammutprojekt! In einer unglaublichen Kompositionssleistung verbinden Wortmann und sein Cutter Ueli Christen all die einzelnen Videos zu einem bunten, großen und stimmungsvollen Ganzen. Immer wieder sind Geschichten von Menschen eingestreut, die wiederum Wortmann selbst begleitet hat. Sie bilden den Rahmen für die einzelnen Abschnitte - wie etwa Aufstehen, Arbeiten, Essen, Feiern - die aus den verschiedensten Perspektiven gezeigt werden. Das Bild, das so entsteht, ist so vielfältig wie ein Panoptikum. Und doch so wunderbar stimmig mit vielen roten Fäden versehen, dass ein ganz natürlicher, spannender und höchst unterhaltsamer Sehfluss entsteht. Auch unbequeme Äußerungen, negative Eindrücke und streitbare Meinungen lässt Wortmann bestehen, was zur Spannung und Vielschichtigkeit des Filmes beiträgt. Es liegt keine Erzählstimme über den Bildern, die Videos der Beteiligten sprechen für sich, offenbaren viel Komisches, Berührendes, Alltägliches, Beeindruckendes. Doch der Gesamteindruck, den der Film vermittelt, ist positiv, von Hoffnung geprägt. Es ist ein Plädoyer für ein Land, das vielfältig ist. Ein Land voller Unterschiede und doch Gemeinsamkeiten. Unabhängig von Dialekten, der Stadt, in der man lebt, dem Hobby, das man hat. DEUTSCHLAND. DEIN SELBSTPORTRÄT ist eine von Sönke Wortmann sorgfältig und klug komponierte optimistische Botschaft an Deutschland selbst.
Jurybegründung:
Nach dem Vorbild des Filmprojekts „Life in a Day“ von Tony und Ridley Scott aus dem Jahr 2010 waren auch die Deutschen aufgerufen, mit Impressionen aus ihrem Leben am 20. Juni 2015 zu einem Kompilationsfilm beizutragen, der Leben und Befindlichkeit in Deutschland wiederspiegeln sollte. Allen war freigestellt, mit Smartphone, Tablet oder Kamera Szenen aus ihrem Alltag oder eigene Reflexionen aufzuzeichnen. Anhaltspunkte gaben drei Leitfragen: Was macht Dich glücklich? Wovor hast Du Angst? Was bedeutet Deutschland für Dich? So sind tausende von Amateurvideos, aber auch professionelle Aufnahmen entstanden, die von Sönke Wortmann, dem Künstlerischen Leiter des Projekts, und seinem Cutter Ueli Christen zu einem programmfüllenden Kinofilm zusammengetragen wurden. Vom Aufwachen bis zum Schlafengehen zeigt er einen ganz gewöhnlichen Tag in Deutschland und vermittelt ein sehr unterhaltsames Stimmungsbild, das aber auch Anlass zum Nachdenken bietet.
Der 20. Juni 2015 war weitgehend regnerisch, aber die Deutschen haben sich ihre gute Laune dadurch nicht nehmen lassen. Ohne in Hurra-Stimmung oder große Euphorie zu verfallen, äußert sich die überwiegende Mehrzahl der Beteiligten sehr positiv über ihr Leben und ihr Land. Das ist erstaunlich, hätte man doch annehmen können, die Deutschen seien von einer eher negativen Haltung geprägt und würden die Chance ergreifen, zu meckern oder sich zu beschweren. Doch weit gefehlt: ein positiver Grundton durchzieht den ganzen Film trotz des sehr heterogenen Materials, das hier zusammengetragen wurde. Es ist faszinierend zu sehen, wie viele unterschiedliche Menschen, Sichtweisen und filmische Formen vertreten und harmonisch miteinander verbunden sind. Die Spannbreite reicht von kurzen Gags und Momentaufnahmen bis zu berührenden Beiträgen von Menschen, die ihre Hoffnung trotz schwerer Krankheit kundtun. Viel Skurriles wurde eingefangen, ohne dass die dahinter stehenden Menschen bloßgestellt werden. Einige von ihnen werden lange in Erinnerung bleiben, wie das Kleinkind, das unbeirrt große Reden führt, oder der Volvo-Fahrer, der fast enthusiastisch die leidvollen Erfahrungen mit seiner Werkstatt schildert.
Der Film ist lose nach Tagesablauf und Themengebieten strukturiert. Die Provinz ist ebenso vertreten wie die Großstadt. Freizeit, Hobbies und Sport nehmen breiten Raum ein, die Arbeit kommt relativ kurz, was daran liegen kann, dass der 20. Juni 2015 ein Samstag war, aber sicherlich auch dem Konzept geschuldet ist, denn nur wenige Menschen sind in der Lage, an ihrem Arbeitsplatz filmen zu können. Einige Beiträge sind kurze Clips, andere Personen kommen im Laufe des Tages ausführlicher oder mehrfach zu Wort, wie das ältere Ehepaar, das wir bei Vorbereitung und Verzehr eines Feinschmecker-Menüs beobachten oder der Justizvollzugsbeamte, den wir auf seiner Fahrt zur Arbeit begleiten, wo wir erstaunt feststellen, dass er im Rollstuhl sitzt und seinen Beruf mit Begeisterung ausübt. Hierbei handelt es sich um Protagonisten, die im Vorfeld ausgewählt und vom Filmteam professionell begleitet wurden. Diese Menschen lernen wir näher kennen, während wir anderen nur kurz begegnen. Dadurch entsteht ein schöner Rhythmus, der, unterstützt von passender Musik, die einzelnen Beiträge zu einem geschlossenen Ganzen verbindet.
Ein solches Projekt ist natürlich nicht repräsentativ, weil einige Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen bleiben, die weniger filmaffin sind oder nicht über entsprechende Aufnahmegeräte verfügen. Andererseits ermöglichen die schiere Menge der Beiträge und ihre unbedingte Subjektivität eine solche Unmittelbarkeit und Mannigfaltigkeit, die von keinem anderen Filmprojekt erreicht werden kann.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)