Sean Wangs „Dìdi“ ist eine Liebeserklärung an aufopferungsvolle Mütter und eine Versöhnung mit dem inneren Teenager. Ob sich ein Kinobesuch lohnt, lest ihr in unserer Kritik.
Wie man coole Skateclips filmt und mit Zunge küsst kann Chris das Internet fragen, doch auf einige brennende Fragen bietet ihm kein Youtube-Tutorial eine passende Antwort. Unerklärlich scheint dem 13-Jährigen etwa, warum sich seine Freunde plötzlich so komisch verhalten, wie man endlich wieder dazugehört und ob er eine Enttäuschung für die eigene Mutter ist. Mit seinem Spielfilmdebüt „Dìdi (弟弟)“ katapultiert uns der Regisseur und Drehbuchautor Sean Wang zurück in die Sommerferien des Jahres 2008. Nachdem Wang zuletzt mit dem Oscar-nominierten Kurzfilm „Nai Nai & Wài Pó“ eine humorvolle Hommage an seine Großmütter verfilmte, handelt es sich auch bei „Dìdi“ um einen halb-autobiografischen Coming-of-Age-Film, in dem der Filmemacher seine Jugend als taiwanesisch-amerikanisches Einwandererkind in einer kalifornischen Vorstadt verarbeitet. Nachdem die Dramödie im Wettbewerb des Sundance Film Festivals 2024 preisgekrönte Premiere feierte, ist der deutsche Kinostart für „Dìdi“ am 15. August 2024.
Im Mittelpunkt des Films steht der 13-jährige Teenager Chris Wang, gespielt von Izaac Wang („Raya und der letzte Drache“). Chris hört auf viele Namen, zuhause nennen ihn seine Mutter (Joan Chen), Oma Nai Nai (Chang Li Hua) und Schwester Vivian (Shirley Chen) meist Dìdi, was in Mandarin so viel wie „kleiner Bruder“ bedeutet und auch von chinesischen Eltern als Kosename für ihre jüngeren Söhne genutzt wird. In der Schule, unter seinen Freunden Fahad und Soup heißt er Wang Wang und seine älteren Skater-Freunde taufen ihn kurzerhand „Asian Chris“, obwohl er beteuert, nur halb-asiatisch zu sein.
Eine kraftvolle Aufarbeitung der tief verankerten Scham
Tatsächlich sind aber beide Elternteile von Chris aus Taiwan. Während Dìdis Vater in der Heimat arbeitet und selten von sich hören lässt, kümmert sich seine Mutter Chungsing Wang im kalifornischen Fremont um den Haushalt, die Kinder und ihre herrische Schwiegermutter. Dass Chris seine Herkunft verleugnet, zeigt sich auf subtile Weise an vielen Stellen: er versteckt chinesische Poster vor seinem Besuch, entschuldigt sich für das schlechte Englisch seiner Mutter und antwortet Familienmitgliedern, die Mandarin sprechen, stets auf Englisch.
Chris‘ Verhalten ist in Angesicht des Rassismus, dem er tagtäglich ausgesetzt ist, nicht verwunderlich. Sei es die Aussage seines Schwarms Madi, er sei süß, „für einen Asiaten“, die Spitznamen in der Schule, oder rassistische Stereotype, vor denen auch seine Freunde nicht verschont bleiben. Statt jene Vorurteile und Mikroaggressionen abzuwehren, machen sich die Jungen diese jedoch zu eigen. Auch Regisseur Sean Wang erinnert sich, wie er die Fremdbezeichnung als der „coole Asiate“ lange stolz mit sich herumtrug und erst Jahre später das Ausmaß dieser auf sein Welt- und Selbstbild anerkannte.
Während Scham generell ein präsentes Thema der Adoleszenz ist und wohl jede*r sich erinnert, wie plötzlich Eltern, Hobbies und banale Vorlieben zur peinlichsten Sache der Welt wurden, hebt Sean Wang in „Dìdi“ noch einmal im speziellen hervor, wie eng das Gefühl der Scham für viele Einwandererkinder der ersten Generation mit ihrer kulturellen Identität verbunden ist. Zu den altbekannten Prozessen der Loslösung vom Elternhaus und der Selbstfindung gesellt sich für Chris auch eine Identitätskrise bezüglich seiner Herkunft dazu. Viele Jahre später widmet Sean Wang seiner Mutter nun „Dìdi“ und schafft eine Liebeserklärung an sie, die so viel für ihre Familie aufgeopfert hat und eine bewegende Bekenntnis zu seiner Herkunft.
Frieden schließen, mit dem inneren Teenager
Vielleicht ist Nostalgie ein zu verklärendes Gefühl, um zu beschreiben, was „Dìdi“ in mir ausgelöst hat. Als Person, die ebenfalls in den 2010er Jahren zur Schule ging, erinnerte mich vieles stark an meine eigene Schulzeit. Meine Erfahrung als weiblich sozialisierte und nicht-migrantisierte Person ist natürlich in vielerlei Hinsicht eine andere, doch gewisse Assoziationen weckte das Drama dennoch. Präsent waren plötzlich wieder die Verlustängste, wenn Freundesgruppen zerbrechen, die Befürchtungen plötzlich uncool zu wirken und abgehängt zu werden, die schiere Panik, wenn man zwischendurch wirklich alles verbockt und die tröstende Erkenntnis, wenn man merkt, dass die Welt sich trotzdem weiterdreht.
Es fiel mir nicht gerade leicht Chris‘ Charakter zu mögen, bis ich realisierte, dass genau das „Dìdi“ auszeichnet. Sean Wang vermittelt das Gefühl, das heranwachsende Ich durch die eigenen, selbstkritischen Augen zu sehen. Es ist die Reue vor dem Schlafengehen, wenn einen plötzlich all die Momente plagen, wo man unnötig gemein zu Familienmitgliedern war, sich für alles schämte und sich, im Versuch weniger peinlich zu sein, erst recht blamiert hat. Ich denke als Zuschauer*in muss man Chris nicht mögen, es ist aber wichtig, ihm ein gewisses Mitgefühl zuzusprechen, wie man auch den jüngeren Versionen seiner selbst verzeihen sollte. Sich für damalige Fehltritte zu schämen, heißt lediglich, dass man seitdem als Person an seinen Herausforderungen gewachsen ist. Am Ende des Tages waren wir alle wie Chris damals wohl kaum furchtbare Menschen, sondern schlichtweg überforderte Teenager*innen.
Auch wenn „Dìdi“ als klassischer Coming-of-Age-Film keine völlig neue Prämisse eröffnet und der Vergleich zu „Mid90s“ für 2000er Kids naheliegt, vermag das Drama mit seinen liebevoll entworfenen, vielschichtigen Charakteren, deren Darsteller*innen zu großen Teilen zum ersten Mal vor der Kamera standen, ein authentisches Bild einer Jugend zwischen Tastenhandys, Youtube ohne Werbung und den Anfängen von Social Media zu zeichnen. Auf humorvolle, berührende und zutiefst ehrliche Weise erinnert „Dìdi“ somit an die Hochs und Tiefs des Erwachsenwerdens.