Der junge Regisseur Thomas Lang ist überzeugt davon, in dem aufsehenerregenden, schlagzeilenträchtigen Mord an einer jungen britischen Studentin seinen nächsten Filmstoff gefunden zu haben. Er ist erst seit ein paar Tagen im italienischen Siena und hat bereits unzählige Versionen des berüchtigten Falls gehört. Sei es von der amerikanischen Journalistin Simone Ford, die den Prozess mitverfolgt und ein Buch über das Verbrechen geschrieben hat oder dem zwielichtigen Blogger Edoardo, der vorgibt, wichtige Hintergrundinformationen im Hinblick auf den wahren Hergang der Tat beschaffen zu können. Schließlich weiß er nach kurzer Zeit schon nicht mehr, wem er noch glauben soll. Je mehr sich Thomas in den Fall vertieft, desto mehr verliert er sich darin und desto weniger ist ihm klar, wovon sein Film eigentlich handeln soll. Er hinterfragt dabei seine eigenen Motive und verliert das Vertrauen in sich und sein Können - bis er eines Nachts der Studentin Melanie begegnet… Als äußeren Erzählrahmen für seinen neuen Film wählte der preisgekrönte Regisseur Michael Winterbottom den berüchtigten Kriminalfall rund um Amanda Knox und Meredith Kercher. Wer Kercher umgebracht hat und ob Amanda Knox darin verwickelt war, ist bis heute nicht geklärt. Winterbottom entschied sich daher für einen äußerst spannenden Ansatz: Anstatt wild über ein befriedigendes Urteil zu spekulieren, macht er sich bzw. das Alter Ego Thomas Lang zum Protagonisten des Films. So wandelt DIE AUGEN DES ENGELS auch weniger auf den Spuren eines klassischen Thrillers, sondern ist eher eine selbstreflexive Seelenschau eines Künstlers in der Krise. Daniel Brühl knüpft dabei nahtlos an seine internationalen Rollen an. Seine Thomas-Lang-Figur ist ein kreativer Sinnsuchender, der die Lust am Konventionellen verloren hat und sich immer weiter in den labyrinthischen, dunklen Gassen Sienas verliert. Das Drehbuch verknüpft geschickt sein Abtauchen in die brodelnde Nachtwelt lose mit Dantes „Göttlicher Komödie“. Durch das Verweben der realen Sensationsstory mit der eigenen Sicht auf die Krisen eines Künstlers gelingt Michael Winterbottom ein überraschend vielschichtiger Film.
Jurybegründung:
Der Fall des Mordes an der jungen britischen Studentin Meredith Kercher, die im Jahre 2007 in Perugia tot aufgefunden wurde, bewegt seit damals sämtliche Medien. Als Hauptverdächtige wurden Amanda Knox, die US-amerikanische Mitbewohnerin des Opfers, sowie drei junge Männer unter dringendem Tatverdacht verhaftet. Seitdem erhitzt der Fall, der zwei widersprüchliche Urteile hervorbrachte und der deshalb immer noch nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte, die Fantasien der Medien und der Öffentlichkeit. Die Story wurde von den Zeitungen und Fernsehsender über viele Jahre schon medial ausgeschlachtet und so „versprach“ auch Michael Winterbottoms DIE AUGEN DES ENGELS einiges Potenzial. Immerhin hat der Filmemacher unter anderem mit seinem Film 9 SONGS vor einigen Jahren für einen kleinen Skandal gesorgt. Wer allerdings nun ein spekulatives Werk erwartet, das seine Heimat eher im Exploitation-Kino hat, sieht sich schnell getäuscht - und das ist durchaus ein Qualitätsmerkmal dieses äußerst zwiespältigen Films.
Dass der Film auf den Fall Meredith Kercher / Amanda Knox Bezug nimmt, merkt man schnell, trotz der Namens- und Ortsänderungen, die Winterbottom und sein Drehbuchautor Paul Viragh vorgenommen haben. Statt Perugia spielt das Geschehen nun in Siena, das Opfer heißt hier Elizabeth Pryce, während die undurchsichtige Mitbewohnerin auf den Namen Jessica Fuller umbenannt wurde. Neu ist vor allem der Weg, den Winterbottom bei seinem Mix aus Essay, Thriller und Drama mit leichten Anleihen beim Liebesfilm beschreitet: Denn im Mittelpunkt steht der einst erfolgreiche Regisseur Thomas Lang, dem die Regie für einen Film über den Fall angeboten wird. Um sich ein Bild von dem verwirrenden Fall zu machen, reist der ausgebrannte Filmemacher an den Ort des Geschehens und trifft dort auf die Journalistin Simone, mit deren Hilfe er den wahren Ereignissen auf die Spur kommen will. Doch je mehr er zum vermeintlichen Zentrum, zum Geheimnis um den Mord, vordringt, umso verwirrender gestaltet sich das Bild und damit auch der Film, den er zu drehen beabsichtigt.
Man ahnt um Michael Winterbottoms Schwierigkeiten bei diesem Projekt - und viele der Probleme, die sich aus einem Thema ergeben, das immer noch aktuell und dessen Lösung nach wie vor völlig offen ist, spiegeln sich in der Figur von Thomas Lang wieder. Während ihm ein Dokumentarfilm vorschwebt, jongliert die Produktion, die ihn beauftragt, bereits mit Namen für Darsteller herum. Während sich die Meute der Journalisten vor allem auf die attraktive Jessica stürzt und sie als „Mörderin mit den Engelsaugen“ beschreibt, ist sein „Engel“ eher das Opfer. Und dann die Wahrheit: Wo ist sie zu finden? Etwa im Drehbuch des undurchsichtigen Bloggers Edoardo, der behauptet, den Fall gelöst zu haben? Oder in dem, was die Polizeibeamten ermittelt haben und was vor Gericht verhandelt wird? Wie Thomas Lang scheint sich auch Michael Winterbottom nicht sicher zu sein, wo die Wahrheit denn liegen mag. Immer wieder eröffnet DIE AUGEN DES ENGELS neue Ebenen und Sichtweisen, neue Blickwinkel und bislang verborgene Aspekte, die sich in der überhitzten und vom Kokaingenuss befeuerten Fantasie Langs zu immer neuen Szenarien und Albträumen überlagern und auftürmen. In manchen Momenten fühlt man sich an Federico Fellinis ACHTEINHALB erinnert oder an Michelangelo Antonionis BLOW UP, dann wechselt der Film wieder jäh die Stoßrichtung und nimmt eine weitere Schleife, um am Ende doch nicht ans Ziel zu gelangen. Das ist bisweilen durchaus anregend, funktionierte für die Jury aber nicht über die volle Laufzeit besonders im letzten Drittel, als die angedeutete Liebesgeschichte von Thomas mit der Austauschstudentin Melanie beim Kartenspiel endet, ohne dass sie für die Geschichte von besonderem Belang wäre.
Technisch und darstellerisch durchaus ansprechend umgesetzt (wobei Daniel Brühl als Regisseur in einer Lebenskrise die Jury nur teilweise überzeugen konnte), mangelt es Winterbottoms neuem Film an einer klaren Idee, vieles ist angedeutet, doch zwischen den Metaebenen und verschiedenen Bezügen (unter anderem auf Dantes „Inferno“, das in Langs Fantasien eine zentrale Rolle spielt), kommen sowohl die persönlichen Geschichten der Tatbeteiligten wie auch der Hintergrund des Mannes, der einen Film über den Fall zu drehen beabsichtigt, zu kurz. Als Gedankenexperiment und Essay über die Unmöglichkeit der Suche nach der Wahrheit hält der Film aber einige bemerkenswerte Szenen bereit, die den Zuschauer auch lange nach dem Ende des Films noch beschäftigen werden.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)