Totila Blumen ist Holocaust-Forscher. Als solcher versteht er keinen Spaß. Per se nicht und auch im Speziellen nicht, wenn seine Kollegen versuchen, aus einem Auschwitz-Kongress ein werbefinanziertes Bling-Bling-Event zu machen und somit das Erbe des gerade erst verstorbenen und von Totila hoch verehrten Professors Norkus mit Füßen treten. Als man Totila dann auch noch die sehr junge und sehr nervige französische Studentin Zazie vor die Nase setzt, die ihm folgt wie ein Hündchen und mit seinem direkten Vorgesetzten ein Verhältnis hat, ist der stets ernst und überlegt dreinblickende Mann am Ende. Doch Jammern hilft nicht - erst recht nicht bei seiner gestressten Frau, die ihn auffordert, weniger zu hadern und sich mit dem zu arrangieren, was das Leben gerade anbietet. Und so macht Totila weiter seine Arbeit, unterstützt von Zazie. Die jedoch scheint ihre ganz eigene Agenda zu haben - eine Agenda, die eng mit Totilas Familie verknüpft ist. Von der ersten Minute an setzt Chris Kraus in seinem neuen Film DIE BLUMEN VON GESTERN den Ton: Schnelle Dialoge, beißender Humor, auf Krawall gebürstete Protagonisten. Das ist der Stoff, aus dem richtig gute Komödien sind, und der Film entspricht diesen Anforderungen komplett. Und das trotz des sehr belasteten und für Humor eher weniger geeigneten thematischen Settings. Dennoch gelingt dem Regisseur und Autor Kraus das Kunststück, den Zuschauer auch tief zu berühren. Denn unter der Oberfläche der vor Witz sprühenden Dialoge und der teilweise sehr obskuren Situationskomik schaffen Kraus und sein hervorragendes Ensemble, das bis in die Nebenfiguren mit Glanzleistungen aufwartet und Figuren voller Tiefe und Tragik schafft. Lars Eidinger spielt den Juniorprofessor zunächst trocken und bierernst. Doch sein betroffener und oftmals waidwunder Blick, die Verzweiflung in seiner Stimme und die Hilflosigkeit seiner Gesten offenbaren jemanden, der innerlich zerrissen ist und nicht nur ein Suchender in Sachen Geschichte, sondern vor allem nach sich selbst ist. Dabei helfen kann ihm nur eine Figur wie Zazie, die von Adele Haenel mit Verve und Esprit gespielt wird. Zazie geht unter die Haut, ist anstrengend und in ihrer Exaltiertheit oftmals unerträglich. Und doch ist sie ein zartes, fragiles und fast schon irreales Geschöpf, dessen Faszination sich nicht nur Totila nicht lange entziehen kann. Der Zuschauer folgt beiden Figuren auf ihrem jeweiligen Weg und spürt mit ihnen ein großes persönliches Geheimnis auf, das sie verbindet und mehr über die Tragik der Geschichte erzählt als jede steife Abhandlung in einem Lehrbuch. Mit DIE BLUMEN VON GESTERN ist Chris Kraus ein meisterlicher Film gelungen, der stilsicher zwischen Komik und Tragik balanciert, ohne albern oder kitschig zu sein. Aberwitzig, anspruchsvoll, genial.
Jurybegründung:
Mit DIE BLUMEN VON GESTERN hat Chris Kraus eine erstaunlich mutige und überraschende Tragikomödie über die Erinnerungskultur und Erforschung des Holocaust inszeniert.
Es geht um einen Holocaustforscher (Lars Eidinger) zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen zwei Frauen und in Verleugnung seiner Vergangenheit. In der Begegnung mit der Enkelin einer Holocaust-Ermordeten eskaliert sein labiles Selbstbild, er stellt seine Ehe in Frage und verliebt sich in die sperrige junge Französin. Dabei entwirft der Film extreme Ambivalenzen in der Charakterzeichnung, und es gelingt ihm, die schwierige Beziehung des Paares überzeugend schauspielerisch zu vermitteln.
In diesem Film ist ein origineller und ungewöhnlicher Umgang mit dem Holocaust-Diskurs zu bemerken. Er ist mitunter entwaffnend ehrlich bezüglich der Holocaustforschung als einer kommerzialisierten Institution.
Auf der schauspielerischen Ebene liefert der Film eine intensive Beziehungsdarstellung, die ein Spiel mit der Erwartung des Publikums geschickt nutzt, lenkt und zu überraschenden Wendungen führt. In seinen rasanten Dialogen erinnert der Film mitunter an Hollywoods Screwball Comedies oder die Großstadtfilme Woody Allens. Und die letzte Szene des Films mag sogar als Hommage an diese Filme verstanden werden.
Die besondere Leistung des Films liegt darin, den Holocaust-Diskurs der 2010er Jahre differenziert zu vermitteln und einen frischen und neuen Blick auf die Erinnerungskultur in Deutschland zu werfen, die zwischen ethischer Verantwortung und kommerziellen Mechanismen aufgerieben scheint.
Zum Ende hin verliert der Film vielleicht etwas an Fahrt, was mit der ernsthaften Rahmung zusammenhängt - viele Details aus der Vorgeschichte werden hier später geliefert und verändern die Perspektive, was jedoch zusätzliche Aspekte hervorbringt. Insgesamt muss dieser Film als ein außergewöhnliches Autorenwerk betrachtet werden, das ganz eigene und großartige Qualitäten besitzt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)