Die feinen Unterschiede: Intelligentes Psychodrama über zwei alleinerziehende Elternteile, die eine nervliche Zerreißprobe überstehen müssen, als ihre Kinder eine ganze Nacht verschwinden.
Komplexe Psychostudie, die ein Coming-of-Age aus Elternperspektive als nervliche Zerreißprobe schildert.
Knapp zwei Tage lang entspinnt sich eine Chronik der Angst, während der zwei alleinerziehende Elternteile ihre über Nacht verschwundenen Kinder in wachsender Panik suchen und dabei auf ganzer Linie versagen. Sylvie Michels auf dem Filmfest München vorgestellte, ambitionierte Low-Budget-Produktion überzeugt mit unbekannten Mimen, präzisen Beobachtungen und einem formal funktionalen, vielschichtigen Drama. Der Titel, nicht von ungefähr in Anlehnung an Pierre Bourdieus bekanntestes Werk gewählt, notiert zunächst wohlwollend, bald kritisch die Differenzen von Pädagogikleitfäden, nationaler Herkunft und (finanzieller) Schicht, um sie schließlich süffisant einzuebnen: beide Erziehungsphilosophien scheitern.
Die erste gehört dem wohlhabenden Gynäkologen Sebastian (der geläufigste Name: Wolfram Koch), ein vielbeschäftigter Multitasker, der viel managt und es allen recht machen will. Dieses Laissez-faire nutzt sein 16-jähriger Sohn Arthur ungeniert, um ihn als autoritätsloses Portemonnaie auszuschmarotzen. Als Arthur mit seiner Freundin und der deutschunkundigen 20-jährigen Vera, der Tochter von Sebastians gutmütiger bulgarischer Putzfrau Jana, abends ausgeht, knirscht die überprotektive Sorgenmutti bereits mit den Zähnen, was sich noch verstärkt, als am nächsten Morgen Nachrichten der drei ausbleiben. Schließlich steckt ihre Hysterie den bedachten Sebastian an und kurz darauf liegen beider Nerven blank - zum Schaden aller Beteiligten, denn unter Druck wird es mitunter hässlich.
Wenn scheinbar gefasste Eltern alle Souveränität verlieren und die Verständnis-Hürde zu ihrem Nachwuchs nicht mehr überwinden können, wird es einsam um sie. So simpel und bitter lautet Michels Fazit, doch erlangt sie es auf einem nuancierten Weg, der Drama, Portrait und Studie nutzt, damit genaue Charakterisierungen anfertigt und den Akteuren ausreichend Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Stilistisch ordnet sich Michel unauffällig ihren vielschichtigen Inhalten unter, einer nie akademischen, stets ungekünstelten Analyse von Beziehungen, Vorurteilen und Statusfragen von Personen, die in diesem durchaus maliziös angelegten Stresstest ihre Sympathien einbüßen. Die Akzentuierung liegt auf den beiden Erwachsenen, vermeintlich separiert durch ihre kulturelle Kluft. Sie verstehen einander nicht, ohne zu begreifen, wie sie sich gleichen. tk.