Die Heimsuchung: Herausragend guter, clever konzipierter Psycho-Thriller um einen BKA-Ermittler, der mit einem Kindheitstrauma konfrontiert wird.
Herausragend guter, clever konzipierter Psycho-Thriller um einen BKA-Ermittler, der mit einem Kindheitstrauma konfrontiert wird.
Wie der Mond, so hat auch jeder Mensch eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt, weil sie ihm womöglich gar nicht bewusst ist: Davon handelte bereits Stephan Ricks Martin-Suter-Verfilmung „Die dunkle Seite des Mondes“ (2016) mit Moritz Bleibtreu als Jurist, der eine gleichermaßen faszinierende wie verstörende Reise in seine seelischen Abgründe erlebt. Auch in seinem jüngsten Werk schickt Rick seine Hauptfigur auf eine Reise, die sie in eine Schattenwelt weit jenseits der Grenze seines eigenen Seins führt. Es gehört zu den vielen Qualitätsmerkmalen des herausragend guten Drehbuchs von Thorsten Wettcke, dass alle Beteiligten bloß Passagiere sind, die keine Ahnung haben, wohin diese Reise führt: der Held, seine Freundin und das Publikum. Der Schluss des Films ist ein Knüller, der die gesamte Geschichte in ein völlig anderes Licht taucht und allen den Boden unter den Füßen wegzieht; vor allem natürlich dem Protagonisten, dessen Balanceverlust durch entsprechende Kamerabewegungen verdeutlicht wird. Wie am Ende sämtliche Puzzleteile wie von Geisterhand an die richtige Stelle fallen und eine einzige Erkenntnis alle Fragen beantwortet: Das ist ganz große Erzählkunst.
Von all‘ dem ist zunächst jedoch nichts zu ahnen: Der Berliner BKA-Polizist Ben (Kostja Ullmann) befreit auf eigene Faust ein entführtes Mädchen. Als er sich und das Kind in Sicherheit wähnt, entpuppen sich die vermeintlichen Kollegen als Verbrecher, die das Mädchen erschießen; Ben überlebt, wird aber in ein künstliches Koma versetzt. Freundin Marion (Kristin Suckow), eine Neurologin, hat derweil seine Eltern (Martin Feifel, Deborah Kaufmann) kennen gelernt, zu denen Ben schon lange keinen Kontakt mehr hat. Sie überredet ihn, zur Erholung an die Ostsee zu fahren, wo er früher immer die Ferien verbracht hat; die Eltern leben mittlerweile dort. Zu seiner Überraschung erfährt er, dass sein Kindheitsfreund Timmi nicht etwa tot ist, wie er immer dachte, sondern seit zwanzig Jahren im Wachkoma liegt. Der Junge ist damals auf dem Bauernhof seiner Eltern an tödlichen Gasen im Maissilo erstickt. Es gelingt Marion, seine Erinnerungen zu wecken und via MRT mit ihm zu kommunizieren. Eine letzte Blockade verhindert jedoch, dass er aufwacht. Ben ahnt, dass sein Freund Opfer eines Verbrechens geworden ist, denn natürlich wusste der Bauernsohn von der Gefahr im Silo; also begibt er sich auf eine Reise in die gemeinsame Vergangenheit. Was er dort entdeckt, ist allerdings derart verwirrend, dass er schließlich sogar an seinem eigenen Verstand zweifelt.
Der Reiz des Films liegt nicht zuletzt im Genremix, weil sich die Geschichte vom Thriller zum Krimi zum Psychothriller wandelt. Immer wieder streut Wettcke Hinweise ein, die allesamt Belege für Bens zunehmende geistige Umnachtung zu sein scheinen. Auch dank Ricks fesselnder Inszenierung kommt es gleich reihenweise zu Gänsehauteffekten. Das Drehbuch ist ein Fest für Menschen mit einer Vorliebe für Geschichten, die mit großer Raffinesse konstruiert sind und ihrem Publikum ständig neue Rätsel aufgeben, ein cleveres Anagramm inklusive; der Film macht tatsächlich große Lust, ihn gleich noch mal und nun mit anderen Augen anzuschauen.
Wettcke hat gemeinsam mit Christoph Silber einige todernste Krimikomödien für den „Tatort“ aus Münster und zuletzt die vortreffliche Episode „Lakritz“ (2019) geschrieben. Auch Ricks Arbeiten waren bislang ausnahmslos sehenswert, von seinem Debüt „
Unter Nachbarn“ (2012) bis zu „Querschläger“ (2019), einem „Tatort“ aus Hamburg mit Milan Peschel als Vater, der aus Verzweiflung zum Verbrecher wird. „Die Heimsuchung“ ist sein bislang wohl bester Film. Die kunstvolle Bildgestaltung (Pascal Schmit) entspricht perfekt der düsteren Stimmung der Geschichte, die einen Vergleich mit den Mystery-Thrillern von M. Night Shyamalan („
The Sixth Sense„, 1999) nicht scheuen braucht.
Tilmann P. Gangloff.