Über 20.000 Jahre war die Chauvet-Höhle im Tal der Ardeche in Südfrankreich durch einen Felssturz verschüttet gewesen. Erst 1994 wurde sie entdeckt eine Sensation, denn sie beherbergt 32.000 Jahre alte Höhlenzeichnungen, mehr als doppelt so alt wie alle anderen bisher bekannten bildlichen Darstellungen. Prähistorische mythische Kunst in einer Höhle, die das Werden des menschlichen Geistes verkörpert: Das ist ein Fall für Werner Herzog.
Im persönlichen Gespräch mit Frankreichs Kulturminister Frédéric Mitterand gelang es Herzog, eine Sondererlaubnis zu erhalten und das Innere der Höhle abfilmen zu können, gegen die symbolische Bezahlung von einem Euro abzüglich Steuern. Unter strikten Bedingungen durften Herzog und sein kleines Team die Höhle betreten zum Schutz der wertvollen Zeichnungen, der Tierknochen auf dem Boden, der Wände und des Bodens ist die Höhle für die Allgemeinheit unzugänglich, und auch Höhlenforscher dürfen sie nur unter strengen Restriktionen betreten. Auf einem 60cm-Eisensteg darf man sich in der Höhle bewegen, nicht länger als eine Stunde, um die Luftfeuchtigkeit im Höhlenklima durch die Atemluft nicht zu beeinträchtigen. Was bedeutet: Werner Herzog besucht diese Höhle als Stellvertreter der Öffentlichkeit, seine Filmbilder der Höhle werden die einzigen sein, die für lange Zeit öffentlich zu sehen sein werden.
Und genau deshalb hat Herzog seinen Film in 3D gedreht. Und selten, vielleicht nie zuvor waren die dreidimensionalen Bilder so sinnvoll, so notwendig wie in diesem Fall. Kein rein ästhetischer Mehrwert, keine bloße zusätzliche Sensation für den Zuschauer, keine simple technische Trickbegeisterung stehen hinter der Entscheidung, in 3D zu filmen. Nein: es geht schlicht darum, dass das Gesamte der Höhle anders nicht zu filmen ist. Gerade, wenn man die Verantwortung hat, letztgültige Bilder liefern zu müssen ohne die Möglichkeit späterer Korrekturen. Denn: Die Höhle hat nicht einfach glatte Wände. Da sind gewundene Nischen, Einbuchtungen und Ausbeulungen und all diese kurvigen Felsformationen haben die Steinzeitmenschen genutzt für ihre bildlichen Darstellungen.
Pferde, Nashörner, Löwen, Büffel, Hirsche, Hyänen, auch Spinnen und Schmetterlinge sind da abgebildet, in unglaublicher, absolut erstaunlicher Qualität nicht nur eine Qualität des erhaltenen Pinselstrichs, sondern auch eine künstlerische Qualität der Abbildung der Natur: vollkommen lebensecht wirken diese Zeichnungen, zwei Löwen, die miteinander schmusen, vier Pferde hintereinander stehend, das Nashorn, das mit acht Beinen gemalt ist, offenbar um die rennende Bewegung des Tieres darzustellen, ein anderes, das wie in einem Comic mit doppelten Strichen gemalt ist, um das Beben, das Zittern anzuzeigen, da es zur Attacke heranstürmt. Und diese Gemälde sind alle um die Wölbungen der Felsen gemalt, die Wölbungen wurden offenbar tatsächlich genutzt, um einen künstlerischen Tiefeneffekt zu erreichen. Um das per Film zu repräsentieren ist 3D-Technik unumgänglich. Und Herzog weiß genau, wie er diese Technik einsetzen muss, um das Höhleninnere effektvoll zu zeigen: der Raum wird greifbar und begreifbar, die Höhle und ihre Kunstwerke werden plastisch erfahrbar. Und das, obwohl er nur eine kleine digitale Kamera mitnehmen konnte, trotz des unausbleiblichen Zitterns, das die Handkamera in der engen Höhle mit sich bringt. Allein diese Höhlenbilder machen den Film zu einem Erlebnis.
Doch Herzog wäre nicht Herzog, wenn er es bei der reinen Repräsentation, beim bloßen Zeigen des Vorhandenen beließe. Herzog will den Dingen auf den Grund gehen, auf seine eigene Weise. Und er fragt nach diesen Steinzeitmenschen, nach diesen frühmenschlichen Künstlern. Was erzählen die Zeichnungen, was erzählt die Höhle uns über sie? Und was erzählen sie in einem weiteren Schritt über uns? Die Bilder seien Kommunikation mit der Zukunft; und nun fragt Herzog zurück in die Vergangenheit, und das heißt: er spürt dem Werden des Menschen, des Geistes, der Seele nach. Nahm hier in der Höhle, in der künstlerischen Betätigung, die menschliche Seele ihren Anfang? Herzog befragt Höhlenforscher, beleuchtet umfassend die Steinzeitkunst auch auf der Schwäbischen Alb, wo diverse uralte Kunstgegenstände gefunden wurden; eine Gegend, die damals wohl über eine eisfreie Zone mit Südfrankreich verbunden war. Und so betastet die Kamera auch verschiedene Skulpturen, mystisch-spirituelle Darstellungen aus der Steinzeit; ein Forscher hat eine Flöte aus dieser Zeit nachgebaut und kann darauf in der Tat den Star-Spangled Banner pfeifen. Ein anderer stellt die damalige Speerjagd dar, mittels einer die Hebelwirkung verstärkenden Speerschleuder und es ist Teil von Herzogs Humor, dass dieser Mann es nicht so richtig hinkriegt, dass er auch nicht so recht weiß, wie er sich vor der Kamera zu verhalten hat; und dass er dennoch nicht denunziert wird, sondern dass sich gerade durch diese menschlichen Unzulänglichkeiten seine Leidenschaft demonstriert.
Darauf hat es Herzog in all seinen Filmen abgesehen, auf den Menschen und auf seine Leidenschaften, und darauf, woher diese Leidenschaften kommen. So ist Cave of Forgotten Dreams auch ein Film über die Höhlenforscher selbst: einer, ein Hobby-Höhlensucher, war einst einer der berühmtesten Parfümkreateure Frankreichs, nun versucht er, in Steinspalten die Ausdünstungen verschütterter Höhlen zu erschnüffeln. Einer, der aufwändig ein 3D-Modell der Chauvet-Höhle erstellt, war früher im Zirkus beschäftigt. Als Löwenbändiger?, fragt Herzog aufgeregt Gefahr ist sein Geschäft ; nein: als Jongleur. Doch auch darin zeigt sich der Wille zum Tun und der Wille zum Wissen, die für Herzog den Menschen ausmachen.
Einen weiteren großartigen Dokumentarfilm hat Herzog hinbekommen, und zugleich eine weitere essayistische Annäherung an das unsichtbare wahre Wesen des Menschen. Und da er mit seinem trockenen Humor und seiner sanften, deutschgefärbten Stimme (im Original) den Film auf Englisch selbst kommentiert, sind ihm die mythisch-mystisch-spirituellen Gedankengänge, auf die er sich immer wieder lustvoll begibt, nicht nur verziehen, nein: sie sind notwendig für diesen (wie für alle anderen) Herzogfilme.
In einem bemerkenswerten Epilog kehrt Herzog der Höhle den Rücken, hin zu einem Atomkraftwerk ein paar Kilometer weiter, mit dessen aufgeheizter Kühlflüssigkeit ein Tropenpark beheizt wird. Darin: eine Menge Krokodile, und darunter auch einige Mutanten, Albinos, denen Herzogs besonderes Interesse gilt. Er nimmt wieder die Kamera, um wie in Bad Lieutenant die Krokodile abzutasten und sie als Symbole für die urtümliche menschliche Seele zu nehmen. Was, wenn eines der Albinokrokodile ausbräche, sich auf den Weg machen würde und in die Höhle gelangte? Stände es, das Un- und Urtier, vor diesen paläontologischen Gemälden: was würde es empfinden, eine ähnliche heimlich-unheimliche Ergriffenheit wie wir?
Fazit: Ein großartiger, vielschichtiger Dokumentarfilm: Unter anderem über uralte Steinzeit-Höhlenmalereien, für deren filmische Aufarbeitung die 3D-Technik unumgänglich ist. Über die Höhlenforscher, über das, was sie antreibt. Über das Wesen und das Werden den Menschen an sich.