Schweigeminute: TV-Adaption der gleichnamigen Novelle von Siegfried Lenz.
Manchmal rast die Zeit nur so dahin, manchmal bleibt sie stehen; nur zurückdrehen lässt sie sich nicht. Mit diesen Gedanken darüber, wie lang oder wie kurz eine Minute sein kann, beginnt die schmerzlich-schöne melancholische Romanze „Schweigeminute“ nach der gleichnamigen Novelle von Siegfried Lenz.
Thorsten M. Schmidt hat 2013 bereits den Lenz-Roman „Arnes Nachlass“ verfilmt und findet erneut exakt den richtigen Tonfall für die Geschichte, deren trauriges Ende durch die Rahmenhandlung vorweggenommen wird: Der Film beginnt mit einem Moment des Schweigens für eine Lehrerin, die an den Folgen eines Segelunfalls ums Leben gekommen ist. Ähnlich wie bei „Titanic“ ist also von Anfang an klar, dass die große Liebe, von der der junge Erzähler Christian nun rückblickend berichtet, kein gutes Ende nehmen wird. Aber wer weiß, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn Stella nicht gestorben wäre, denn „Schweigeminute“ handelt von der Beziehung zwischen einem Oberprimaner und seiner rund 15 Jahre älteren Englischlehrerin. Die Handlung spielt in den Sechzigern in einem kleinen Ostseeort, wo sich die verbotene Liebe selbstverständlich nicht lange geheim halten lässt.
Die beiden Hauptdarsteller sind die denkbar beste Besetzung für ihre Rollen: Jonas Nay spielt nach seinen erstaunlichen Leistungen in „
Homevideo“ oder „
Deutschland 83“ erneut großartig; und Julia Koschitz, die trotz ihrer vielen Filme nie an Intensität verliert, fügt ihren vielen tragischen Rollen der letzten Jahre eine weitere hinzu. Zunächst jedoch ist Stella eine Frau zum Verlieben: Als sie in dem Küstenkaff auftaucht, ist Christian wie vom Blitz getroffen. Dabei stammt auch Stella aus dem Ort. Die letzten 14 Jahre hat sie allerdings in London verbracht, wo sie auch studiert hat. Nay mag mit seinen mittlerweile Mitte zwanzig etwas zu alt für einen Oberprimaner sein, aber das stört nicht weiter; außerdem muss Christian natürlich die nötige Reife haben, um glaubwürdig Stellas Aufmerksamkeit zu wecken. Seinen ersten Auftritt als Kavalier hat er, als er die neue Lehrerin beim Hafenfest vor dem Brauch bewahrt, vom „Krakenmann“ als Nixe erkoren und ins Wasser geworfen zu werden. Als er Stella zu einer Bootsfahrt mitnimmt und die beiden angesichts eines nahenden Unwetters auf einer kleinen Insel in einer Hütte Zuflucht finden, erfüllen sich die sexuellen Träume des Jugendlichen; aber ihn verbindet weit mehr als nur eine Schwärmerei mit Stella, und auch sie betrachtet die Beziehung alsbald nicht länger bloß als flüchtiges Abenteuer. Der Segelunfall, bei dem sie eine schwere Kopfverletzung erleidet, kommt einem möglichen Schulverweis für Christian zuvor.
Obwohl der betrübliche Ausgang der Geschichte von vornherein feststeht, erzählt das Drehbuch (André Georgi, Claudia Kratochvil und Schmidt) die Geschichte nicht als Tragödie; selbst wenn kurze Einschübe immer wieder daran erinnern, welch‘ tragisches Ende die Beziehung nehmen wird. „Schweigeminute“ ist daher so etwas wie ein Gegenentwurf zum in der Regel tendenziell kitschigen Sonntagsfilm im ZDF und der Beweis, dass eine Romanze auch als anspruchsvolles Drama mit geschmackvoll inszenierten erotischen Momenten erzählt werden kann. Wichtig für die positive Stimmung sind nicht zuletzt die gezielt eingesetzten zeitgenössischen Popsongs. Sehenswert ist „Schweigeminute“ auch wegen der Bildgestaltung durch Hannes Hubach, der ausgezeichneten Musik von Gert Wilden jr. und der namhaft besetzten Nebenfiguren (unter anderem Alexander Held und Nina Petri). Die schönste Nebenrolle hat allerdings Uwe Preuss als Christians Vater, der trotz einer schweren Kriegsverletzung nicht verbittert ist und großes Verständnis für seinen verliebten Sohn hat. tpg.