Der junge Bazarbai lebt mit seiner Familie im Grenzland zwischen der Mongolei und Kasachstan. Nach einem Streit reißt er von Zuhause aus und macht sich mit dem Adler des Vaters auf eine abenteuerreiche Tour durch die Steppe hin zu seinem Bruder in die Stadt. In ruhigen aber äußerst bildgewaltigen Aufnahmen begleitet der Film den Protagonisten auf seiner Reise zum Erwachsenwerden und schildert dabei auf einmalige Weise die respektvolle Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur. Ein eindeutiges „besonders wertvoll“ für unvergleichliche Einblicke in diese fremde Kultur und die Lebensumstände des jungen Helden!
Jurybegründung:
Der zwölfjährige Bazarbai und sein älterer Bruder Khan leben mit ihrer Familie im Westen der Mongolei, im einsamen Grenzland zu Kasachstan. Die Jungen kümmern sich um die Schafherde der Familie, aber Bazarbai träumt davon, mit seinem Bruder in die Stadt zu ziehen und die Schule zu besuchen. Doch der Vater hat andere Pläne. Khan, der Ältere, soll in die Stadt gehen, um dort Arbeit zu suchen, während Bazarbai dazu bestimmt ist, die alte Familientradition fortzuführen und die Kunst der Jagd mit dem Adler zu erlernen. Bisher zeigt Bazarbai allerdings weder besonderes Interesse noch Talent im Umgang mit dem Adler. Als Khan in die Stadt abreist, fühlt sich Bazarbai verraten und enttäuscht. Auch das große Adlerfestival, auf das der Vater ihn mitnimmt, kann ihn nicht versöhnen. Im Grunde sucht er nur eine Möglichkeit, seinem Bruder in die Stadt zu folgen. Als er - in der Hoffnung mitgenommen zu werden - einem ausländischen Fotografen den Adler präsentiert, nimmt dieser, vom Blitzlicht verstört, Reißaus. Aus Furcht vor dem Zorn des Vaters macht sich Bazarbai inmitten einer wilden Gebirgslandschaft auf die Suche nach dem Tier und auf den langen Weg in die Hauptstadt. Es ist eine gefahrvolle und abenteuerliche Reise, bei der er erkennen muss, dass nicht alle, denen er begegnet, ihm freundlich gesinnt sind. Aber er trifft auch auf Menschen, die ihm helfen und ihm beistehen, wie das Mädchen Inaara. Vor allem kann er das Vertrauen des Adlers gewinnen, der nach dem Willen des Vaters die Aufgabe hat, den Jungen zu beschützen. Mit Hilfe des Adlers gelingt es Bazarbai schließlich sogar den Bruder zu retten, der bei einem Minenunglück verschüttet wurde. Um wichtige Erfahrungen reicher, kehrt er nach Hause zurück.
In faszinierenden Bildern und ruhigem Tempo erzählt der Film von einer Initiationsreise, in deren Verlauf der junge Held lernt, dass ein glückliches Leben nicht unbedingt eine Abkehr von der Tradition bedeuten muss. Die geradlinig erzählte Geschichte bezieht ihren Reiz aus der Nähe zur Realität. Alle Darsteller sind Laien und haben in ihrem wirklichen Leben ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Filmfiguren. Der Regisseur René Bo Hansen hat sich vor allem als Dokumentarfilmer einen Namen erworben. Mit großem Respekt nähert er sich der anderen Kultur und gewährt uns Einblicke in eine Welt, die uns mit ihren ungewöhnlichen Ritualen, ihren teilweise rauen Umgangsformen und dem starken Kontrast zwischen Tradition und Moderne fremd erscheint und uns auf diese Weise mit unserer eigenen Ethnozentriertheit konfrontiert.
So erscheint der Wunsch des Jungen, in die Stadt zu gehen und dort die Schule zu besuchen, zunächst verständlich. Der Film zeigt sehr eindringlich, dass es für Kinder in allen Gesellschaften schwierig ist, erwachsen zu werden. In einem Land wie der Mongolei, wo der Gegensatz zwischen uralten Traditionen und den Anforderungen des modernen Lebens noch sehr stark ausgeprägt ist, fällt es besonders schwer, den eigenen Platz im Leben zu finden. Das muss Bazarbai unter großen Entbehrungen und Gefahren lernen. Sein Vater gesteht ihm aber auch die Zeit und Autonomie zu, diese wichtigen Erfahrungen zu machen. Der Vater-Sohn-Konflikt ist gut inszeniert und lässt beide Sichtweisen zur Geltung kommen. Die Begegnungen mit den verschiedenen Menschen auf der Reise eröffnet für Bazarbai die Möglichkeit, unterschiedliche Lebensweisen und Charaktere kennenzulernen und für sich zu bewerten.
Der Film besticht durch eine hervorragende Kameraarbeit, die imposante, kinogerechte Bilder liefert. Auf der großen Leinwand kommen die Landschaftspanoramen des mongolischen Gebirges und der Steppe und vor allem die Aufnahmen aus der Perspektive des fliegenden Adlers besonders zur Geltung. Unterstützt werden sie von dezenter, einfühlsamer Musik.
Der majestätische Adler und die im Laufe des Films zunehmende Nähe zwischen dem Jungen und dem Tier ist besonders faszinierend und hinterlässt tiefen Eindruck. Diese Szenen erfordern viel Zeit und Sorgfalt und sind in einer derart abgelegenen Gegend mit teilweise extremen Witterungsverhältnissen schwierig zu drehen. Dass die Filmemacher sich hierauf konzentriert haben, lässt über einige kleinere Sprünge in der Handlung hinwegsehen.
Die Stimme des Adlers ist ein Film für die ganze Familie. Er ist ein Abenteuerfilm vor großartiger Naturkulisse und eine tiefgehende Reflexion über das Abenteuer des Erwachsenwerdens. In großartigen Bildern gewährt er Einblicke in eine fremdartige und faszinierende Kultur und plädiert für einen respektvollen Umgang des Menschen mit der Natur, für Freundschaft, Verantwortung und die Vereinbarung von Tradition und Moderne.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)