Fine besitzt nicht viel Selbstvertrauen. Als Theaterschülerin bleibt sie eher blass im Hintergrund, bei ihrer Mutter zuhause spielt sie die ewig zweite Geige neben ihrer geistig und körperlich behinderten Schwester. Als dann aber der berühmte Theaterregisseur Kaspar Friedmann gerade sie für die Hauptrolle in seinem neuen Stück besetzt, kann Fine es kaum glauben und ist bereit, für die Rolle bis an ihre Grenzen zu gehen. Doch wann ist diese Grenze erreicht? Der zweite Spielfilm des Jungregisseurs Christian Schwochow konzentriert sich klar auf die Hauptfigur der Fine, intensiv und grandios gespielt von Stine Fischer Christensen. Bis zur Schmerzgrenze erlebt der Zuschauer ihre Gefühle, ihr Leiden und ihren Triumph mit. Zudem wird ein authentischer Einblick in das Leben auf und hinter der Bühne gewährt. Schonungslos und offen in seiner Härte und doch mit zarten Untertönen - intensives eindringliches Filmtheater!
Jurybegründung:
Das Sichtbarwerden durch einen mit Schmerzen verbundenen Weg hin zur eigenen Identität geht die verschlossen wirkende Schauspielelevin Fine (Stine Fischer Christensen). Der bekannte Regisseur Kaspar Friedmann (Ulrich Noethen) sucht sich aus dem Kreis der Abschlusskandidaten die schüchterne Fine für eine Hauptrolle seines neuen Stücks aus, obwohl sie in ihrer Präsentation versagt hat. Es ist ihr zerbrechliches Wesen, das ihn fasziniert und ihre Formbarkeit als Erfüllung seiner Leistung an sie binden lässt. Diese beiden Protagonisten prägen einen Film, der eine Methode von Zurichtung von Schauspielern beschreibt, die durch die Hölle müssen, um zu Höchstleistungen zu kommen. Sie sollen dabei ganz in ihrer Rolle aufgehen und sie auch in ihrem realen Leben leben. Camille, die neue Rollenfigur, die Fine angeboten bekommt, ist das Gegenstück zu ihrem Versuch, nicht aufzufallen, sich unsichtbar zu machen. Fine hat noch nie mit einem Mann geschlafen, Camille im Stück hingegen ist ein sexbesessener Vamp, die „Sex so liebt wie Kuchen essen“.
Wir lernen Fine näher kennen. Bei der wichtigen Vorstellung ihrer Fähigkeiten zum Studienabschluss als Theaterschauspielerin vor Intendanten, Agenten und Regisseuren kommt sie fast zu spät und verpatzt auch noch ihren Einsatz. Sie ist eingeschlafen. Zuhause lebt sie bei ihrer Mutter und betreut ihre behinderte Schwester. Nachts vor allem raubt diese ihr den Schlaf. Fine tanzt und singt für sie, zeigt ihre schauspielerischen Fähigkeiten, damit die Schwester ruhiger wird. Alles dreht sich um die jüngere behinderte Tochter, für Fine bleibt nichts, nur weitere Auseinandersetzungen mit der gestressten Mutter. Fine braucht ihre Kraft nach innen, für das Außen ist alles aufgebraucht, sie will unsichtbar bleiben. Das ist der Ansatz des Theaterregisseurs Kaspar. Er verlangt von Fine, genau das Gegenteil zu sein, auch über ihre Grenzen hinaus: Camille mit allen Fasern ihres Handelns. Um sie soweit zu bringen, dazu ist ihm jedes Mittel recht.
Ein Film über das Theater und seine Methode des „Method Acting“, die Schauspieler nutzen, um sich mit ihrer Rolle perfekt zu identifizieren. Dank überzeugender Besetzung gelingt eine realitätsnahe intensive Darstellung einer Innensicht der Theaterarbeit und der Generierung von Hochleistung auf der Bühne. Die Verknüpfung mit dem realen Leben ist ebenso intensiv auf der Ebene der häuslichen Belastungen, die eine Zerreißsituation bedeutet, wie auch im Versuch, sich der Rolle Camille so zu nähern und anzugleichen, dass selbst ein Selbstmordversuch eingeschlossen ist. In ihrer Verkleidung als Camille beginnt Fine eine Beziehung zu einem „Tunnelbauer“ aus der Nachbarschaft, der bindungsunfähig ist. Sie lässt sich vom Regisseur führen und antreiben, er kommt ihr zu nahe, verführt sie körperlich und verletzt sie damit. Ihre Hülle hat einen Riss bekommen. Die letzte Barriere der Scham vor der absoluten Nacktheit real auf der Bühne und im übertragenen Sinn als letzter Schritt zur Eigenständigkeit und Akzeptanz der eigenen Aufgabenstellung als Schauspielerin zeigt, dass Fine durch diesen Prozess gereift und nicht daran zerbrochen ist. Ihr Mentor dagegen, der Regisseur Kaspar Friedmann, erscheint weiterhin abhängig von der Obsession, durch Macht über Menschen Nähe herzustellen zu wollen. Er darf keine Entwicklung durchmachen mit seinen psychischen Macken und seiner Einsamkeit. Der Erzählstrang der häuslichen Situation wiederum lebt von dem berührenden Verhältnis zwischen Fine und ihrer spastisch behinderten Schwester, die von Christina Drechsler unglaublich intensiv gespielt wird, während die Mutter nicht die gleiche Tiefe durch ihre fehlende Reflexion erreicht.
Der Film ist sehr gut erzählt und montiert, in sich schlüssig ohne Brüche, bis auf die etwas romantisierende positive Veränderung der behinderten Schwester zum Schluss, mit einer starken und klaren Handschrift von Regisseur und Co-Autor Christian Schwochow inszeniert. Eine faszinierend spannende psychologische Studie über den Reifungsprozess von einer an sich zweifelnden Schauspielschülerin hin zu einer erwachsenen Künstlerin: Fine ist nicht mehr unsichtbar.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)