Berlin, 1943. Die Reichshauptstadt wird als „judenfrei“ eingestuft. Sämtliche Juden, Regimegegner oder eben einfach „Nicht-Arier“ sind nach Theresienstadt, Ausschwitz oder in andere Lager gebracht worden, die Stadt ist „sauber“. Und doch gibt es noch 7000 Juden, die sich weiter in Berlin aufhalten. Sie verstecken sich, tarnen sich, tauchen im Untergrund ab. Sie sind von nun an unsichtbar. Und sie erhalten Hilfe von Freunden und Fremden. Die ihnen dabei helfen wollen, der Bedrohung durch die Nazis zu entgehen und zu überleben. Der Filmemacher Claus Räfle erzählt in DIE UNSICHTBAREN - WIR WOLLEN LEBEN von vier Schicksalen aus dieser Zeit. Da ist Cioma, der sich mit dem Fälschen von Pässen über Wasser hält. Hanny wiederrum färbt sich die Haare blond und hofft, in der Masse unterzugehen. Eugen beteiligt sich nachts am Widerstand, taucht aber tagsüber bei einer Familie unter und versteckt sich bei jedem auffälligen Geräusch im Kleiderschrank. Und Ruth gelingt es, sich mit einer Freundin zusammen als trauernde Kriegswitwe zu tarnen und bei einem NS-Offizier als Dienstmagd unterzukommen. Räfle verknüpft Interviews mit den überlebenden Zeitzeugen mit Spielszenen, in denen das erzählte weitergeführt wird. So werden die fesselnden Überlebensgeschichten der vier Protagonisten fesselnd und sehr authentisch miteinander verknüpft. Und durch die Berichte aus den Interviews mit kleinen persönlichen Einblicken die Welt von damals und das damit einhergehende Gefühl der stetigen Bedrohung zum Leben wird hoch emotional nachvollziehbar. Die Nachwuchstalente Max Mauff, Alice Dwyer, Aaron Altares und Ruby O. Fee, wie auch der Rest des Ensembles, überzeugen durch ihr authentisches und sensibles Spiel . Die geschickte Montage und eine starke Auswahl an O-Tönen lassen die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation verschmelzen und ermöglichen eine grundehrliche und tief berührende Auseinandersetzung mit dem schwierigen und komplexen Thema. Zusätzlich ist der Film ein Denkmal für all die Menschen, die dabei halfen, die Schutzsuchenden zu verstecken, obwohl ihnen bewusst war, in welche Gefahr sie sich selbst dabei begaben. Doch, wie eine der Helferinnen im Verlauf des Films erwähnt: Es ging um mehr, als Leben zu retten. Es ging darum, „Deutschland zu retten“. Auch dieser Aspekt lässt den Film zu einem hochaktuellen Beitrag zu politischen Debatten werden. Als der Krieg 1945 zu Ende geht, haben von den 7000 versteckten Juden in Berlin nur etwa 1500 überlebt. Cioma, Hanny, Eugen und Ruth waren vier davon. DIE UNSICHTBAREN - WIR WOLLEN LEBEN von Claus Räfle setzt nicht nur ihnen, sondern allen Verfolgten und Rettern ein würdiges filmisches Denkmal.
Jurybegründung:
„Noch ein Film zum Thema Holocaust“, mögen manche sagen oder nur denken. Doch ganz unabhängig davon, dass dieses Thema im Medium Film auch in der Zukunft immer seinen Eingang finden sollte, ja muss, so gibt es doch immer wieder Dokumente oder auch Spielfilme über Ereignisse von damals, über die noch gar nicht oder nur wenig berichtet wurde. Man weiß, dass während der Deportationen in die Arbeits- und Todeslager im Deutschen Reich und auch in den vom Hitlerregime besetzten Gebieten jüdische Mitbürger von Freunden und anderen mutigen Helfern versteckt wurden oder untertauchten. Dass im „judenfrei“ erklärten Berlin des Jahres 1943 mehr als 7000 jüdische Bürger mit der Hilfe Berliner Freunde „unsichtbar“ wurden und, wenn auch nur ein Teil, so doch etwa 1700 davon das Kriegsende erlebten, ist erstaunlich.
Es ist ein großes Verdienst von Autor und Regisseur Claus Räfle, sich dieses Themas angenommen zu haben und mit einer umfassenden Recherche nicht nur Archivmaterial gesammelt, sondern auch noch vier lebende Zeitzeugen gefunden zu haben. Ein hervorragendes Drehbuch konzentriert sich auf seiner Erzählebene erfreulicherweise auf das Leben der „ganz normalen“ Berliner Bevölkerung und verzichtet auf den Blick auf die sonst übliche und überstrapazierte Heil-Hitler-Ebene von Regimeführung, Partei und Gestapo.
Die dramaturgisch geniale Idee, einen Spielfilm über die Erlebnisse der vier Zeitzeugen, die dem Holocaust entkommen konnten, mit den Interviews der vier Betroffenen zu verbinden, gibt dem Film eine gnadenlos erschütternde Authentizität. In mehreren Sequenzen des Films wird die inszenierte Handlung nahtlos durch diese Interviews nicht nur weitergeführt und aufgelöst, sondern gibt den teilweise abenteuerlichen und fast unglaublichen Spielszenen gleichzeitig auch die historische Legitimation.
Die vier Zeitzeugen gefunden zu haben ist ein Schatz der besonderen Art. Denn reinen Interviewcharakter haben ihre Erzählungen nicht. Vielmehr berichten sie von ihrem Leben, ihrem Schicksal und im Detail von ihren Erlebnissen als „Unsichtbare“ und gleichzeitig auch -für sie selbst nach wie vor unfassbar - vom Leid und Tod von sechs Millionen Glaubensschwestern und -brüdern.
Die präzise Montage der Spiel-und Erzählszenen in ihrer jeweiligen Ergänzung ist in dieser Form ein Kunstwerk der besonderen Art, das ein großes Lob verdient. Ein weiteres Lob gilt der Einbindung des Archivmaterials in die Spielhandlungen. Man hat glücklicherweise vermieden, die notwendigen Straßenszenen nicht zu bauen oder in den einschlägig bekannten „Filmstraßen“ zu drehen. Vielmehr liefern die gewählten bewegten Archivbilder Berlins exakt die Szenen, die für den Handlungsfortlauf notwendig waren und geben gleichzeitig einen schönen authentischen Blick in das Berliner Alltagsleben. Geschickt dabei auch die absolut passende Vertonung des stummen Archivmaterials. Bleibt noch der Hinweis auf die gute und unaufdringliche Ausstattung.
Die Auswahl des Schauspielerensembles ist ein Glücksfall und ihr Spiel unter der sicheren Führung der Regie glaubhaft und überzeugend gut. Insgesamt ein Filmwerk von hohem historischem und auch pädagogischem Wert, dem nicht nur im Kino großer Erfolg gewünscht werden sollte, sondern auch in den medialen Bildungswerken und dem Unterricht in den Schulen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)