Mitreißend kraftvolle und autobiografisch gefärbte Milieustudie von Ladj Ly über das Pariser Viertel Montfermeil, in dem Bandenkriminalität und Gewalt zu harten Auseinandersetzungen mit der Polizei führen.
Als der Polizist Stephane sich nach Paris versetzen lässt, ahnt er noch nicht, was sein Einsatzort im Pariser Vorort Montfermeil für ihn bedeutet. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen der Bewohner der engen Sozialbauten und der Polizei. Doch auch innerhalb der multikulturellen Gemeinschaft sind die Konflikte zahlreich, das Areal ist streng unter diversen Clans aufgeteilt. Zunächst ist Stephane noch irritiert von der zynischen Haltung, mit der seine Kollegen in Montfermeil ihren Job verrichten. Doch nach und nach bekommt er zu spüren, mit wieviel Hass, Härte und Misstrauen der Alltag aufgeladen ist. Immer stärker kocht die Wut der Menschen hoch. Und die Situation im Viertel droht zu eskalieren. DIE WÜTENDEN - LES MISÉRABLES entfaltet als spannender Thriller mit dokumentarischem Hintergrund eine unfassbar körperliche Sogwirkung. Atemlos verfolgt man als Zuschauer das ausweglos scheinende Schicksal der Figuren, für die man immer stärker Empathie entwickelt. Diese Nähe zu seinen Protagonisten liegt auch in der Biografie des Ladj Ly begründet, der sich schon 2007 in einem Dokumentarfilm mit den Problemen des Viertels beschäftigte, aus dem er selbst stammt. Eine Binnenperspektive, die das kraftvolle Drama vom ersten symbolträchtigen Bild an auszeichnet, in dem ein Junge ein heruntergekommenes Haus im Viertel verlässt, eingehüllt in eine französische Fahne und auf dem Weg zum Public Viewing des WM-Finales 2018. Seine Wucht zieht der Film aus seiner semi-dokumentarischen Wirkung und der glaubwürdigen Interaktion herausragender Schauspieler und Laiendarstellern. Ly und seine Co-Autoren Giordano Gederlini und Alexis Manenti beleuchten dabei beide Seiten und malen kein Schwarz-Weiß-Bild. Die Bewohner des Viertels werden in ihrer ausweglosen Situation zwischen Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und kriminellen Vergehen ebenso ernstgenommen wie die Polizisten, die zwischen all der Härte inzwischen selbst abstumpfen und glauben, nur noch mit Gegengewalt agieren zu können. Der Film verurteilt keine Seite und zeigt deutlich die Gräben, die ein Miteinander erschweren. Die musikalische Auswahl vermeidet klassischen Hip Hop und damit jedes Klischee, der Score ist dominiert von basslastigen und elektronischen Klängen, die häufig eingesetzte Handkamera entlässt die Protagonisten nie aus dem Blick, die Schnitte sind schnell und hart. All dies trägt zu einem unmittelbaren und körperlich spürbaren Seherlebnis bei, das den Zuschauer oft atemlos zurücklässt.
Jurybegründung:
Der in einem sozialen Brennpunkt von Paris aufgewachsene Regisseur Ladj Ly hat sich bereits dokumentarisch mit den sozialen Problemen des Migrantenviertels auseinandergesetzt, in dem unterschiedliche Kulturen auf engem Raum in einer fragilen Balance koexistieren. Nun hat er mit seinem großen Spielfilm DIE WÜTENDEN eine intensive Spielfilmvariante des Themas inszeniert.
Aus der Sicht des neu in das Migrantenviertel Montfermeil versetzten Stéphane Ruiz (Damien Bonnard) erzählt Ly von den Auseinandersetzungen zwischen Gesetz und Verbrechen, zwischen Männern, die zwar auf verschiedenen Seiten stehen, sich jedoch erschreckend ähnlich sind. An jenem Ort begannen 2005 die gewalttätigen Unruhen der Banlieus. Seine Kollegen Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) erweisen sich als erfahrene aber auch korrupte Straßencops, die auch vor sexueller Belästigung nicht zurückschrecken. Im Fond des Dienstwagens erlebt Ruiz das Viertel, in dem er nun für Ordnung sorgen soll. Die Schule des Viertels ist nach Victor Hugo benannt, der hier Les Misérables geschrieben hat. Der Titel spielt nicht nur auf diesen Umstand an, sondern legt nahe, dass sich seitdem nicht viel verändert hat in Paris.
Als ein Junge aus dem Viertel das Löwenjunge eines durchreisenden Zirkusdirektors stielt, kommt es zum Konflikt zwischen den Zirkus-Roma und den Männern des lokalen Paten, des „Bürgermeisters“. Die Polizisten stellen den Dieb und befreien das Tier, doch in der Auseinandersetzung verletzt Gwada den Jungen mit einem Gummigeschoss. Obwohl sich die Polizisten reuig zeigen und zu vermitteln versuchen, eskaliert die Situation immer mehr, und am Ende stehen sich Ruiz und der Junggangster gegenüber.
In der Tradition von Bruno Dumonts sozialrealistischem DAS LEBEN JESU, Bob Swaims Copdrama LA BALANCE, dem Gangfilm LA HAINE oder auch dem brasilianischen Gegenstück TROPA DE ELITE beschreibt der Film eine destruktive maskuline Welt, eine hermetische Gesellschaft der Rituale und Demütigungen, in der nur die Stärksten zum Ziel kommen. Ly knüpft aus seiner Sicht auch an das Cinéma beur der 1980er Jahre an, das der nordafrikanischen Bevölkerung Frankreichs erstmals eine eigene Stimme schenkte. Doch die Qualität von DIE WÜTENDEN liegt gerade im Umstand, dass seine Protagonisten nicht polarisieren, sondern allesamt Teil der Gewaltspirale sind. Das gibt dem Film zweifellos eine nihilistische Grundtendenz, die jedoch zugleich eine tiefe Bemühung um sozialen Realismus erkennen lässt. Der Film gesteht seinen Protagonisten mehrere Seiten zu, aus denen sich ein komplexes Bild der französischen Gegenwart formiert.
Formal ist DIE WÜTENDEN packend und überraschend inszeniert. Reportageartige Sequenzen wechseln sich mit Sequenzen voller streng kontrollierter Stilmittel ab. Die von einem Jugendlichen gesteuerte Drohne wird kreativ und inhaltlich wie formal aufgegriffen. Die subtile und intensive Musikgestaltung baut vor allem auf subtile Bass-Drones, Keyboardflächen und pulsierende Rhythmen.
Die Dramaturgie des Films ist nicht vorhersehbar, klischeehafte Konflikte werden vermieden. Hingegen werden ethische Positionen heraufbeschworen und offen gelassen bzw. an das Publikum zurückgegeben. Persönliche Verhältnisse bleiben in der Schwebe. Es kommt dem Film zugute, dass er kurz vor der möglichen Eskalation endet. Er verdeutlicht dabei, wie fragil das Gleichgewicht der Kräfte in einer multiethnischen Gesellschaft letztlich ist.
Die Jury war vom Gesamtwerk des Films nachdrücklich überzeugt und vergibt gerne das höchste Prädikat „besonders wertvoll“.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)