Tokio bei Nacht: eine schillernde Lichterstadt, anonym, künstlich, immer in Bewegung. Auf dem Fischmarkt wird Thunfisch geschnitten, das Blut von den Tischen danach sofort weggewaschen. Die junge Ryu, die dort arbeitet, wäscht auch gerne Grabsteine auf dem Friedhof sauber. Sie erinnern an die Männer, die die schöne Profikillerin mit ihrer Pistole ins Jenseits beförderte. Doch dann verliebt sich Ryu in den Spanier, den sie eigentlich erschießen soll. Die spanische Regisseurin Isabel Coixet taucht in das geheimnisvolle Abenteuer Tokio in Form dieses doppelgesichtigen Films ein, der teils feurige Liebesgeschichte, teils Thriller ist. Die hervorragenden Hauptdarsteller Rinko Kikuchi und Sergi López spielen kühl, erotisch, voller Emotion, leicht und doch abgründig, als würden sie Tango tanzen.
Dem Titel entsprechend spielt Musik eine wichtige Rolle. Es gibt französische Chansons, von einer japanischen Sängerin vorgetragen, lateinamerikanische Rhythmen, die die heiße sexuelle Affäre von Ryu und David begleiten. Die hervorstechendste Eigenschaft dieses Films ist seine Fähigkeit, Sex aufregend zu inszenieren. Wenn der Spanier David die erwartungsvolle, zerbrechliche Ryu in die Geheimnisse der Lust einweiht, werden gar Erinnerungen an Bertoluccis Der letzte Tango in Paris wach. Aber auch die unendlich langsame Annäherung der beiden Gesichter zu einem Kuss fängt Begehren so sinnlich ein, wie es im Kino nur selten zu sehen ist.
Sergi López spielt diesen spanischen Weinhändler, der um seine tote Freundin trauert, als gemütvollen Mann, der genießen kann, der Feuer hat, aber auch eine Wunde. Darüber möchte er mit Ryu reden. So erfahren wir, dass er an dem Selbstmord seiner japanischen Freundin keineswegs schuld war, wie deren Vater vermutet. Ryu mit ihrem makellosen Porzellangesicht schaut diesen Mann, der sie mit blumigen Worten zum Abendessen einlädt, weil er Gesellschaft braucht, wie ein seltenes Museumsstück an. Sie bitten mich, Ihr Leben zu retten?, fragt sie ihn, ganz Anbetung, und da wir wissen, dass sie eine Pistole im Handtäschchen hat, auch ironisch. Ryu behält die Übersicht, auch wenn sie sich dazu verführen lässt, endlich selbst aus dem Schatten und auf die Bühne des Lebens zu treten.
Die Männer in diesem Film hängen alle an einer Frau, die sie nicht erreichen können: der alte Geschäftsmann und sein junger Assistent, sowie der Spanier an der toten Midori, der alte Tontechniker an Ryu, über deren Abenteuer er im Off erzählt. Ohne seine Schilderung gäbe es keine Spur von Ryu, der man in Tokio folgen könnte, denn Spuren existieren nur, wenn jemand sie beachtet. Auch mit Sofia Coppolas Lost in Translation hat dieser poetische Film Gemeinsamkeiten. Das ungleiche Pärchen ist ähnlich verloren, probiert Neues auf der Suche nach Orientierung, erlebt die fremde Stadt auf sinnliche Weise. David freundet sich endlich dank Ryu mit dem japanischen Schlürfen der Nudelsuppe an, Ryu betrachtet den Europäer als eine Art Magier.
Isabel Coixet filmt die nächtlichen Straßen von oben, als würden sich im bunten Lichtermeer Spielzeugautos tummeln. Sie sucht von Brücken aus das Wasser, das Wege in die Stadt gräbt. Sie bestaunt die bonbonfarbenen Kabinen eines Riesenrads in einem nächtlichen Vergnügungspark, die blühenden Bäume mit ihrem romantischen Versprechen, für das die Großstadt ein paar Freizeitinseln reserviert hat. Diese Stadtführung bezaubert, regt zum Nachdenken an und verschont die Reisenden mit wahrgewordenen Träumen, damit, dass in der Nacht vergossenes Blut am Morgen nicht schon wieder weggespült ist.
Fazit: Erotisches Feuer und eiskalter Thrill zeichnen dieses Liebesabenteuer im Zauber der Atmosphäre von Tokio aus.