Mit seinem neusten Werk Enter the Void wird Gaspar Noé erneut dem Ruf sowohl als Enfant Terrible des französischen Kinos als auch als einer der innovativsten Regisseure gerecht. Seine cineastische Reise durch die Gedankenströme des Protagonisten wirkt wie ein unendlicher psychedelischer Drogentrip, der Zeiten, Impressionen und Welten miteinander verknüpft. Da die Kamera stets den Blickwinkel des Protagonisten Oscar einnimmt, bekommt man Darsteller Nathaniel Brown nur in wenigen Einstellungen zu Gesicht, während er in den Spiegel blickt. Dieses Prinzip erinnert an Robert Montgomerys Chandler-Adaption Die Dame im See und an den Prolog des Bogart-Klassikers Das unbekannte Gesicht. In der Tat wurde Noé sogar von dem Montgomery-Detektivfilm inspiriert, den er einst angeblich im Drogenrausch sah. Wie ein Rausch zieht gleichfalls das düster-transzendente Drama mit wilden Stroboskop-Einlagen vor den Augen des Betrachters vorbei, aus dem es 162 Minuten lang kein Entrinnen gibt.
Schon mit seinen ersten Kurzfilmen erwies sich Noé als unberechenbarerer, experimentierfreudiger Filmemacher, der auf Publikumserwartungen keine Rücksicht nahm. Gewisse Elemente wiederholen sich in seinem Werk. Wie in dem längeren Kurzfilm Carne der namenlose Metzger für den Angriff auf seine Tochter einen Unschuldigen verstümmelt, wiederholt sich dieser Akt in Noés zweitem, rückwärts erzähltem Langfilm Irreversible nach einer furchtbaren Vergewaltigung. Wie in der Carne-Fortsetzung I Stand Alone/Seul contre tous/Menschenfeind der aus dem Gefängnis entlassene Fleischer dem Zuschauer seine hasserfüllten, verqueren Gedanken in nicht enden wollendem Stakkato um die Ohren (und Augen) schlägt, bevor er mit seiner Tochter schläft, variieren sich in Enter the Void sowohl Inzestmotiv als auch die Form des Stream-of-Consciousness, die Zeit und Empfindung verbindende Gedankenwelt des Protagonisten hier allerdings ohne innere Erzählstimme.
Ohne einen einzigen Schnitt verspricht der Verleih, was natürlich so nicht ganz stimmt, aber dank Computertechnik wird man der Szenenübergänge nicht mehr so bewusst wie einst in Hitchcocks Cocktail für eine Leiche. Etwa Oscars mittels Schwarzblenden simuliertes Blinzeln konnte für Cuts genutzt werden. Aber es stimmt durchaus, dass Noé im Gegensatz zu den schnellen Gedankensprüngen von Seul contre tous wie in Irreversible schwebende Plansequenzen verwendet, um sowohl die Räume als auch die Befindlichkeit seines Zentrums zu durchmessen. Völlig aus der Sicht des Protagonisten schildert der Prolog dessen Alltag im Drogenrausch, bevor das Schicksal gnadenlos zuschlägt und er im Leichenschauhaus landet. Da Oscar zuvor seiner geliebten Schwester die tibetanische Widergeburt näher brachte und sie ohnehin nie verlassen wollte, gleitet seine Seele weiterhin unruhig durch das dunkle Tokio, das kein Tageslicht zu kennen scheint.
Im Schnelldurchlauf schlängelt sich der zweite Abschnitt durch Oscars und Lindas Biografie, wobei der blutige Autounfall ihrer Eltern, den die beiden Kinder im Schock überlebten, in immer neuen Varianten während der assoziativen Reise wiederkehrt. Im langen Mittelteil verlässt sein Geist den toten Körper und folgt dem Weg der Schwester, die sich mit einem zwielichtigen Nachtclubbesitzer einließ, seines Freundes Alex auf der Flucht vor der Polizei oder eines Ex-Kumpans, der ihn an die Polizei verriet. Dabei gleitet die Kamera in Lichtquellen sowie absonderlichste Öffnungen wie einen Aschenbecher oder Oscars klaffende Schusswunde, wobei sein Geist in der Lage ist, Verhöre im Polizeirevier oder eine Abtreibung zu beobachten. Im puzzlehaften Finale verbinden sich die verschiedenen Ebenen, und Vergangenheit, Gegenwart und Traumvisionen verschmelzen zu einem halluzinatorischen Bildersturm.
Betritt das Nichts der Name eines der Hauptschauplätze, ein in knalligen Neonfarben blinkender Discotempel und Nightclub, gilt auch als Motto der bizarren Nirwanafahrt. Doch am Ende steht ein Neuanfang an der Seite der verehrten Schwester, wobei Oscars Geist schon zuvor mehrfach in den Körper ihrer Liebhaber fuhr. Provokateur Gaspar Noé lässt mit Motiven wie Inzest erneut kein Tabu aus, doch stärker als früher fließen bei seiner Kombination aus Blut, Verbrechen und Sex gelegentlich poetische Momente ein. Wer sich auf die existenzialistische Fahrt einlassen will, erfährt einen durchaus faszinierenden Bilderrausch, teils mit exstatischen Technobeats, teils mit klassischer Orchesterklängen untermalt. Durch die Überlänge wandelt sich der surreale Trip aber bald ins Ermüdende. Gegen Ende hätte man von dem radikalen Bilderreigen, der bei uns leider nur digital und in wenigen Kopien startet, einige Straffungen gewünscht, aber einfache, angenehme Kost war eben nie Gaspar Noés Sache.
Fazit: Esoterisch-spiritueller Totentanz als (alb-)traumhafte Reise durch Tokios Nachtwelt mit zahlreichen Wiederholungen im Finale.