Der Mount Everest ist mit 8848 Metern der höchste Berg der Erde. Für Menschen ist es unmöglich, in dieser Höhe zu überleben. Und dennoch wagen es jedes Jahr Unzählige, den Gipfel zu erklimmen. Im Jahr 1996, als der Everest schon längst dem Bergsteiger-Massentourismus zum Opfer gefallen ist, unternimmt auch der erfahrene Bergführer Rob Hall zusammen mit einer geführten Gruppe den Versuch, über die Südseite an den Gipfel zu gelangen. Doch ganz plötzlich schlägt das Wetter um, ein Sturm kommt auf. Und der Berg wendet sich unerbittlich gegen seine Bezwinger. Es sind atemberaubende Bilder, mit denen Regisseur Baltasar Kormákur und sein Kameramann Salvatore Totino in EVEREST den Zuschauer von Beginn an in ihren Bann ziehen. Die Höhe der Gipfel, die Tiefe und Weite des Horizonts und die stets deutliche Winzigkeit des einzelnen Menschen, der sich nur als kleiner Punkt auf den schneebedeckten Gletscherspalten und Gipfeln vorwärtsbewegt, werden vor allem durch das exzellent eingesetzte 3D perfekt auf die Leinwand gebannt. Doch bei all der Faszination der visuellen Eindrücke gerät nie die schlimme und unfassbare Katastrophe in den Hintergrund, über die der Film berichtet. Denn das Jahr 1996 geht als „tödlichstes Jahr“ in die Geschichte der Everest-Besteigungen ein. 12 Menschen starben, darunter viele Mitglieder der Expeditionen unter der Leitung von Rob Hall, den Jason Clarke stoisch und doch sympathisch verkörpert. Clarke macht Hall nicht zu einem Helden, er lässt ihn stark, aber doch angreifbar wirken. Ein Mann, der weiß, was er tut, aber doch auch in gewisser Weise der blinden Faszination für seine Leidenschaft erliegt. Auch der Rest des Casts ist mehr als überzeugend. Josh Brolin als bärbeißiger Grübler, Jake Gyllenhall als abenteuerlustiger Luftikus, Emily Watson als Koordinatorin, die im Basis-Camp die Bergsteiger per Funk verbindet und mehr und mehr hilflos zusehen muss, wie die Katastrophe ihren unerbittlichen Lauf nimmt. EVEREST erzählt unaufgeregt, ohne Hast, und inszenatorisch unglaublich intensiv und eindringlich von einer wahren Geschichte. Der Film kommt ganz ohne Klischees aus, mahnt vor dem Größenwahn der Kletterer und zeigt dennoch auch die ungebrochene Faszination, die der Berg zweifelsohne ausübt. EVEREST ist ein Film, der den Zuschauer mit auf eine unvergessliche Reise nimmt. Dramaturgisch, inszenatorisch, ästhetisch und schauspielerisch wie aus einem Guss. Ein gewaltiges und überwältigendes Filmerlebnis.
Jurybegründung:
Der 10. und 11. Mai 1996 gingen als schwarze Tage in die Geschichte der Alpinistik ein. Vier Expeditionen gerieten auf dem höchsten Berg der Erde in einen Sturm. Von den 33 Bergsteigern zahlten acht das Abenteuer mit ihrem Leben. Da auch ein Kamerateam und mehrere Journalisten am Berg waren, ist die Katastrophe gut dokumentiert und löste eine Debatte über die Kommerzialisierung der Everest-Besteigungen aus.
EVEREST verdichtet die Ereignisse zu einem packenden Drama, zu einem Wettlauf mit der Zeit, das filmische Maßstäbe setzt. Der Film nutzt perfekt das gesamte Spektrum der dreidimensionalen Aufnahmemöglichkeiten, um einerseits den Gefühlen der Expeditionsteilnehmer nachzuspüren. Andererseits besticht er durch atemberaubende, räumlich wirkende Panoramaaufnahmen der bizarren Eis- und Gletscherlandschaft.
Inhaltlich definiert EVEREST das Genre des Bergfilms neu, das seit Jahrzehnten heroische Geschichten von der Bezwingung der Höhe, der Selbstüberwindung oder Selbstaufopferung des Einzelnen erzählt. Das macht den Film zu einem würdigen Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Venedig.
Der Film beginnt klassisch mit einer kurzen Einführung aller Protagonisten. Und in der Tat verliert Regisseur Kormakur auch keine Figur aus den Augen. Ihre Motivation, die strapaziöse Tour auf sich zu nehmen, ihr Ehrgeiz und ihre Selbstüberschätzung, ihre körperlichen Schwächen werden neben eklatanten Fehlentscheidungen zu Motoren der Handlung, die sich zunehmend auf Expeditionsleiter Rob Hallund einen der Überlebenden, den Amerikaner Beck Weathers, konzentriert.
Hall wird Opfer der eigenen Hybris, die Besteigung des Everest zu kommerzialisieren. Wie die anderen Expeditionsteilnehmer stirbt er einsam und lautlos, der Tod kommt eher beiläufig. Obwohl die Männer in dicke Winterkleidung gehüllt sind, kommt der Zuschauer ihrem stillen Leiden sehr nahe, mit kleinen Gesten machten die brillanten Schauspieler die Gefühle transparent. Ihre Emotionen werden von drei starken Frauenfiguren gespiegelt und verstärkt, allen voran Emily Watsons als energische Assistentin von Hall und warmherzige „Mutter“ der Expedition.
De Kampf ums Überleben mit den Gewalten der Natur gleitet nie in Kitsch oder Pathos ab, weil der Film die Mühsal und die Strapazen der Besteigung des Everest in den Focus stellt. Der Blick auf den Berg bleibt meist auf den schmalen Ausschnitt beschränkt, der vor dem menschlichen Auge liegt. Selbst als die ersten Expeditionsteilnehmer das Ziel erreicht haben, verkneift sich der Regisseur einen Schwenk über die sicherlich grandiose Bergkulisse.
Der Schauwert des Films ist trotzdem hoch. In den Draufsichten auf das Meer der mit Schnee und Eis bedeckten Riesen wirkt der Mensch klein und verloren. Durch dieses visuelle Konzept kommentiert der Film nicht nur den Wahnsinn, die Besteigung des Everest zu einem Tourismus-Highlight gut betuchter Menschen aus der westlichen Welt zu machen, die die Enthusiasten in den Hintergrund drängen. Er wird auch zu einer Allegorie auf die Vermessenheit des Menschen, die Natur bezwingen und kontrollieren zu wollen.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)