Der junge Autor Tomas Eldan scheint auf der Stelle zu treten. Die Inspiration für seinen neuen Roman bleibt aus und seine Beziehung besteht nur noch aus Schweigen oder Streit. Als er eines Abends gedankenverloren durch die Landschaft fährt, rutschen zwei Jungen mit ihrem Schlitten direkt vor das Auto, Tomas kann nicht mehr reagieren. Der ältere der Jungs, Christopher, überlebt, doch der kleine Bruder stirbt. Dieser Unfall hinterlässt bei allen unheilbare Narben: Die Mutter kommt über ihren Verlust nicht hinweg, der Bruder steht auch Jahre später noch unter Schock und auch Tomas kann das Bild der Tragödie nicht mehr aus dem Gedächtnis bekommen. Jahre später ist Tomas ein gefeierter Autor und in einer neuen Beziehung. Doch die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. Nach PINA arbeitet Wim Wenders in seinem neuesten Film erneut mit den Möglichkeiten des 3D und es ist erstaunlich und zutiefst beeindruckend, wie sehr er sich die Technik zu nutze macht, um sie in die Erzählung einzubauen. Die großartigen Bilder von Benoit Debie spiegeln perfekt die Vielschichtigkeit der Gefühle wider. Die überwältigende Landschaft Kanadas tut ihr übriges, um die Aufnahmen atmosphärisch aufzuladen. In langen Einstellungen und geleitet von Wenders kontemplativer Erzählung taucht der Zuschauer ein in die Leben der Protagonisten, die in ihrer Agonie und ihrem Schmerz ihren Gefühlen keinen Ausdruck mehr verleihen können. James Franco als Tomas steht dabei im Zentrum. Es ist seine Perspektive, die der Film vermittelt, sein Kampf um das Vergessen und die Chance auf ein endgültiges Loslassen. Dies alles verkörpert Franco glaubwürdig und authentisch. Um ihn herum kreisen die Frauenfiguren, deren verschiedene Facetten von Charlotte Gainsbourg, Rachel McAdams und Marie-Josee Croze perfekt wiedergegeben werden. Doch erst durch Christophers Kontaktaufnahme zu Tomas, die gegen Ende des Films im Zentrum steht, wird das Bild vollständig abgerundet. Robert Naylor spielt ihn fast schon gespenstisch eindringlich und hinterlässt so einen bleibenden Eindruck. Mit EVERY THING WILL BE FINE ist Wim Wenders ein eindringliches, berührendes und intensives Drama gelungen, das den Betrachter ganz unaufgeregt mit seiner Ruhe gewinnt und doch völlig in seinen Bann zieht.
Jurybegründung:
Der jüngste Film von Wim Wenders ist ein Drama um die klassischen Themen Schuld, Schmerz, Vergebung, Erlösung und die Frage, was Zufall und was Schicksal ist. Der Schriftsteller Tomas, der mit seiner Freundin Sara in einem Dorf bei Montreal lebt, fährt bei starkem Schneefall vom St. Lawrence-Strom, wo er eine „Schreibhütte“ auf dem vereisten Wasser gemietet hat, im Dämmerlicht des späten Nachmittags nach Hause. Da saust unerwartet und nicht vorhersehbar ein Schlitten vor seinen Wagen. Tomas findet einen kleinen Jungen im Schnee, der zwar unverletzt, aber völlig traumatisiert wirkt. Als Tomas das Kind nach Hause begleitet, wird schnell klar, dass ein zweites Kind auf dem Schlitten saß und diesen Unfall nicht überlebt hat. Parallel erzählt Wenders die Lebensläufe der beiden Hauptpersonen, der von dem Tod ihres kleinen Sohnes vor Schmerz überwältigten Mutter Kate und des von Schuldgefühlen gequälten Schriftstellers, dessen eigene Beziehung endgültig daran zerbricht. Langsam und behutsam entwickelt sich der Plot. Die Jahre vergehen. Tomas hat als Schriftsteller wachsenden Erfolg, findet eine neue Frau mit Tochter, während die Mutter des verstorbenen Nicholas sich von ihrem Verlust nie wieder richtig erholt, denn auch sie fühlt sich schuldig. Nach dem ausgezeichneten Drehbuch von Bjorn Olaf Johanssen entfaltet sich ein intimes Familiendrama, das auch andere Themen streift: Der Vater von Tomas, ein renommierter Wissenschaftler, trauert der, wie er es ausdrückt, vergeudeten Zeit an der Seite der von ihm ungeliebten Mutter von Tomas nach und fürchtet das nahende Alter, das ihn im Laufe der Handlung an den Rand der Demenz führt. Anna, die neue Frau an Tomas‘ Seite, beklagt, dass ihrem Lebensgefährten jede Empathie fehle und muss sich immer wieder der Frage stellen, wie unterschiedlich Menschen mit Trauer und Erinnerungen umgehen. Kate versucht ihr Leben nach dem Unglück wieder in den Griff zu bekommen, scheitert aber an ihren Erinnerungen. Und schließlich gibt es noch Christopher, den älteren Bruder, der nicht verhindern konnte, dass sein kleiner Bruder bei dem Unfall starb. Während die Erwachsenen in einer Mischung aus Selbstmitleid und Selbstfindung ihren Alltag allmählich zu meistern beginnen, ist er der Außenseiter, nach dessen Befindlichkeit niemand fragt - bis der inzwischen 16-Jährige Junge sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Am Ende kommt es dann doch zu der Erlösung, die den Titel des Films, der zunächst ironisch klingt, zur Tatsache macht: „Every thing will be fine“.
Auch aufgrund der leistungsstarken 3-D-Kamera-Arbeit von Benoit Debie werden die kanadischen Landschaften am St. Lawrence im Wechsel der Jahreszeiten, aber auch die Häuser, Innenräume und Ausblicke durch Fenster auf Gärten und Bäume, zur lebendigen Szenerie des Dramas. Diese Sichtweise bedingt ähnliche Effekte wie eine Schaukastenbühne. Sie ermöglicht dem Zuschauer konzentrierte Blicke auf Innenräume, in denen sich die seelischen Entwicklungen der Figuren abspielen. Er wird gleichzeitig hinein gezogen und doch auf Distanz gehalten. Nach dem eher gemächlichen ersten Viertel des Films gewinnt das Drama um Schuld und Vergebung mit der Szene zusehends an Tempo, da Tomas sich entschließt, Kate und den Schauplatz des Unglücks, der alle zu schuldlos Schuldigen gemacht hat, noch einmal zu besuchen. Und von dieser emotional aufgeladenen Begegnung an findet auch die Musik von Alexandre Desplat genau die richtigen Klänge für die dramatischen Szenen, in denen die Protagonisten, deren Rollen alle mit starken Schauspielern besetzt sind, sich durch die Schatten ihrer Schuldgefühle zurück ins Licht kämpfen. Besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang der 18-Jährige kanadische Schauspieler Robert Naylor als Christopher.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)