Ein bisschen erinnert Exil an die Filme Jim Jarmuschs oder Aki Kaurismäkis und ist zugleich doch ganz anders. Wie Jarmusch schickt Tony Gatlif ruhelose und doch lakonische Menschen auf eine Suche nach sich selbst und beobachtet ihrer Reisen und Posen in distanzierten, fast lethargischen und zugleich weit offenen Momentaufnahmen. Stimmungsfilme sind es hier wie da; weniger zählt die feste Handlung sondern ein Gefühl, eine Stimmung, die mit Episoden und Details zu fassen versucht werden. Doch während Jarmusch Amerika, die Heimat seiner Helden, als Carte Blanche vorstellt, und sein Bruder im Geiste Kaurismäki die karge und maulfaule Phlegmatik seiner Protagonisten für soziale Seitenhiebe nutzt, rumort es bei Gatlif in seinen südländischen Figuren gewaltig. Pariser Lebensfreude, spanisches Temperament und nordafrikanische Unmittelbarkeit bilden gemäß der Reiseroute das Feuer der Figuren und ihres Lebensgefühls etwas, das im Vergleich den Kaltblütern Jarmusch und Kaurismäki abgeht.
Entsprechend dicht wird Zano und Naïma zu Leibe gerückt, in Großaufnahmen ihre Körper untersucht, wenn sie einander ihre Narben inspizieren oder wenn Zano seiner Freundin den Nacken liebkost. Ungestüm und unmittelbar sind die beiden unterwegs, so getrieben wie energetisch: Zu Beginn steht der junge Mann nackt am Fenster, blickt von einem Mietsblock aus auf das Band der Autobahn. Laute packende Musik läuft, die wütend von Demokratie und Freiheit handelt. Zano lässt sein fast leeres Bierglas in die Tiefe fallen, wendet sich um zu seiner Freundin, die, ebenfalls nackt, im Bett lustvoll mit dem Pudding hantiert. Lass uns nach Algerien fahren, schlägt er vor. Naïma lacht erst. Doch schon in der nächsten Szene sind sie unterwegs, nur mit ein paar Taschen behängt und natürlich ihrem Mini-Disk-Player.
Denn die Musik ist wichtig in und für Exil. Die Texte der Lieder sind untertitelt, das meiste hat Gatlif selbst beigesteuert. Von Techno- und Elektroklängen über den Flamenco bis zu den algerischen Weisen markieren sie mental wie kulturell die Fahrt der beiden Helden zurück entlang historischer und sozialer Koordinaten. Musik ist meine Religion sagt Zano einmal. Tatsächlich ist sie mehr: Identität, Selbstbestimmung und Heimat. Zuletzt wird er dem Grabstein seines Großvaters die Kopfhörer seiner Konservenmusik aufsetzen und sie zurücklassen. Eine kleine aber treffsichere Geste: das Ankommen bei sich selbst und die Versöhnung von Neuem und Alten, der Fremde mit der Heimat.
Dabei sind das schon große Symbolismen, verglichen mit der Beiläufigkeit, der trockenen, lebensprallen Leichtigkeit und Direktheit, die die ganz persönliche Reise auszeichnet, auf die uns Gatlif selbst algerischer Emigrant mitnimmt. Nichts ist da für den Blick inszeniert sondern vorgefunden, lediglich eingefangen mit Instinkt und Klugheit. In Cannes gab es dafür 2004 den Preis für die beste Regie, verdientermaßen. Der Blick aus dem Zug und durch das zerkratzte Fensterglas eines Klapperbusses, verfallene Fabrikstädte, das virile Sevilla, trockene spanische Landschaft und saftige Pfirsichhaine, das staubige Marokko (wohin es die beiden verschlägt, weil sie sich aufs falsche Boot geschlichen haben). All das registriert Gatlif wie es sich ihm darstellt, genauso wie die konkreten politischen und gesellschaftlichen Probleme. Die werden auch als gegeben konstatiert, ohne Beschönigung aber auch ohne darüber einen gravitätischen Diskurs anzuzetteln; denn Gatlif erzählt von etwas anderem. Für den Strom der Armen nach Norden, Richtung sozialen Wohlstand, gegen den das junge Paar anschwimmt, findet er immer wieder treffende Motive en passant. Und für das Thema der illegalen Einwanderer braucht es nur zwei spanische Polizisten, die einem Afrikaner in den Streifenwagen packen und die Reisebekanntschaft, die sich unter einem LKW versteckt an den Ordnungshütern vorbeischmuggelt. Eine kleine Szene. Mehr nicht.
Auch die strengen Regeln des Islam und die Last der Tradition für die Frauen werden nicht ausgespart und trotzdem mit Gelassenheit behandelt. In Algier von einer Frau ob ihres Sommerkleidchens angefeindet, lässt sich Naïma in ein langes Gewand samt Kopftuch stecken. Doch nicht lange hält sie es aus. Schnell hat sie die Nase voll und entledigt sich der hitzigen Verkleidung auf einem Friedhof. Keine große Kritik an Verhältnissen, sondern nur die Pragmatik der überaus lebendigen, ungezwungenen jungen Frau. Die dann wiederum verloren auf die hergebrachte Familie schaut, auf die jungen Frauen, die ein Baby wickeln und es segnen. Mit angezogenen Beinen sitzt Naïma daneben, die Arme um die Knie geschlungen.
Exil versetzt einem in eine merkwürdige Stimmung, die noch nachhallt, wenn man das Kino verlassen hat. Mag es an dem mitreißenden Rhythmen der Musik liegen oder an der Lebenslust und Offenheit seiner zwei Protagonisten. Im Grunde, so vermittelt der Film, ist jeder Fremde eher ein Freund, und sprunghaft und beiläufig werden da die für deutsche Beziehungsfilme formidabelsten Dramen bewältigt: Wenn in Sevilla Naïma mal kurz mit einem Spanier verschwindet, läuft Zano durch die Nacht, sitzt schließlich im Zug und Naïma plötzlich doch wieder neben ihm. Böse ist er auf sie, natürlich, aber nicht allzu lange. Irgendwann ist auch diese Episode vergessen: bei ihrer Arbeit als Pflücker vollführen sie, in einem Garten Eden, ein kindliches wie sinnliches Verführungsspiel.
So ist Exil bei allem Realismus ein berückender Film, der im Hartz IV-Deutschland mit all seinen sozialen (Berührungs)Ängsten eine erstaunlich fremdartige weil bodenständige Leidenschaft und Freimut vermittelt. Etwas, das gerade an grauen Wintertagen einfach nur gut tut.
Fazit: Die Reise eines jungen Pärchens aus Frankreich in die fremde Heimat Algerien gelingt unter der Führung des Filmemachers Tony Gatlif zu einer persönlichen, lakonisch beobachteten und doch leidenschaftlichen, unverfälschten und vitale Gefühlsbeschreibung von kulturellen Wurzeln und Identität.