FBW-Pressetext:
Der Zweite Weltkrieg brachte viele Kriegsverbrechen mit sich. Unzählige wurden Opfer - doch Unzählige waren auch Täter. Was hat diese Menschen, die als Soldaten der Wehrmacht, als Wachmänner im KZ, als Mitglied im Bund junger Mädchen die Zeit bis 1945 verbrachten, dazu veranlasst, mitzumachen und wegzusehen? Und was denken sie heute darüber? Der Filmemacher Luke Holland lässt Zeitzeugen des nationalsozialistischen Regimes zu Wort kommen und eröffnet mit schonungsloser Rigorosität einen offenbarenden Einblick in die Geisteshaltung einer Generation, die damals glaubte, das Richtige zu tun. Und die teilweise bis heute an diesem Irrglauben festhält.
Für seinen Dokumentarfilm hat der Filmemacher Luke Holland sich einer Perspektive eingenommen, die in der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg eher selten ist. Menschen, die Mitläufer waren - und bis heute ihre damalige Ideologie nicht wirklich in Frage stellen. Es ist hart, mitanzuhören, wie beispielsweise ein ehemaliger NS-Soldat von der „Behandlung“ jüdischer Menschen spricht und daran nichts Falsches sehen kann. Denn es waren ja „nur Juden“, wie er sagt. Doch Holland nutzt die Interviewsituation auch, um seine eigene Haltung klarzumachen. Er will von den Befragten Antworten, nutzt jede Gelegenheit, nach- und einzuhaken, stellt das Gesagte in Frage, verlangt Erklärungen - von denen er weiß, dass es sie eigentlich gar nicht geben kann. Und indem er durch eine sehr kluge und wiederkehrende Einblendung von historischen Dokumenten klar macht, dass die Menschen, die heute alt sind, damals jung und verführbar waren, zieht er eine wichtige und aufschlussreiche Brücke hin zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Geschehnissen. Der Film macht klar, dass eine Verurteilung ehemaliger Verbrechen dennoch nicht ausschließen kann, dass so etwas wieder geschieht. FINAL ACCOUNT ist ein eindrucksvolles und erschütterndes Porträt einer Generation, die voller Täter und Mitläufer war, heute aber jede Form von Mitschuld von sich weist. Und das macht den Film zu einer hochgradig wichtigen und nicht zu ignorienden Warnung für junge Menschen im Hier und Jetzt. Ein filmisches Zeitzeugnis von unschätzbarem Wert.
FBW-Jury-Begründung:
Kaum ein Teil der jüngeren Geschichte scheint dokumentarisch so extensiv aufgearbeitet worden zu sein wie die NS-Diktatur. Filme über die von Nationalsozialisten an Juden verübten Gräueltaten gibt es reichlich und dennoch kann nicht genug über die Shoah berichtet werden. Die meisten der noch lebenden Täter bevorzugen bei Gerichtsprozessen noch immer die Antwort: „Davon habe ich nicht gewusst“, wenn es um die Frage ihrer Mitschuld geht. Immerhin hat eben diese Antwort mehr als 70 Jahre im deutschen Justizwesen Bestand gehabt. Der Filmemacher, Regisseur und Produzent Luke Holland scheint dies zum Anlass für eine rund zehn Jahre dauernde Kamerarecherche genommen zu haben, während der er Opfer, Zivilisten, aber auch Lagermitarbeiter und frühere SS-Männer interviewt und nach ihrer Einschätzung der Verbrechen der Nazis gefragt hat.
Interessanterweise zeigt FINAL ACCOUNT keine (oder fast keine) Finsterlinge. FINAL ACCOUNT blickt auf ganz normale Menschen, Menschen, die zu Beginn des zweiten Weltkriegs mitunter keine 18 Jahre alt waren. Mitglieder nationalsozialistischer Jugendorganisationen, die das Leben im nationalsozialistischen Deutschland wie auch den Lageralltag auf die eine oder andere Weise erfahren haben. Mehr als 300 Interviews haben Luke Holland und sein Team ausgewertet. Interviews, die ganz allmählich das Porträt einer Generation widerspiegeln. Trotz der Vielzahl an Geprächen, Bildern, Fakten und Informationen gelingt FINAL ACCOUNT die Präsentation mühelos. Wohl gewählte wie selten gezeigte Filme und Fotos bezeugen die zahlreichen textuellen Bezüge. Trotz der gewaltigen Informationsfülle erschlägt der Film nicht. Im Gegenteil: Von der formalen Seite zeigt sich FINAL ACCOUNT klar gegliedert und beinahe schon unorthodox modern.
Immer wieder stellt Holland heraus, wie effektiv und überzeugend die nationalsozialistische Propagandamaschine gewirkt hat und in einigen Fällen heute noch zu wirken scheint. Er zeigt die große Verführungskraft der Versprechungen der Nazis, er zeigt die Ausstrahlung von Hitlerjugend, Bund deutscher Mädel und Jungvolk, er zeigt aber auch das böse Erwachen, als aus Spiel Ernst wird und Jugendliche sich mit Vernichtungslagern konfrontiert sahen. Immer enger fokussiert der Film von allgemeinen Beschreibungen des damaligen Lebens auf persönlichere Erfahrungen und schließlich auf die Frage nach dem Empfinden einer Täterschaft. Dass Demagogen und Diktatoren nichts ohne ihre Anhängerschaft sind, das ist sattsam bekannt, aber tatsächlich scheint das Wichtigste, das für den Triumph des Bösen notwendig ist, zu sein, dass gute Menschen einfach nichts tun. In diesem Sinne interessant wird der Film, wenn sich die noch heute Lebenden letztlich mit der Frage nach ihrer Schuld konfrontiert sehen, respektive der Frage danach, warum sie sich diesem System nicht verweigert haben.
Man mag Hollands Film vorhalten, er liefere lediglich eine zuschauerfreundliche Fassung von Claude Lanzmanns Shoah, aber diesen Vorwurf können sowohl das Hier und Jetzt wie auch der Film selbst locker entkräften. So überrascht FINAL ACCOUNT nach ungefähr 2/3 Lauflänge mit dem Ausschnitt eines Gesprächs in der heutigen Gedenk- und Bildungsstätte Wannsee. Berliner Jugendliche haben dort mit einem damaligen SS-Mann diskutiert. Anders aber als erwartet zeichnet sich ab, dass die Berliner Jugendlichen weder einen Begriff für die Macht der Propaganda, noch Verständnis für das Schuldeingeständnis des früheren SS-Soldaten haben. Auf der anderen Seite zeigt Holland aber auch jene, die sich fast 80 Jahre nach Kriegsende noch immer weigern anzuerkennen, dass in der Shoah 6 Millionen Menschen umgebracht wurden. Jene, die stolz auf ihre Orden und ihre Zugehörigkeit zur damaligen SS sind.
Die Jury zeigte sich von der Vielschichtigkeit des Films so beeindruckt, dass sie ihm nach ausführlicher Diskussion gerne das Prädikat „besonders wertvoll“ verleiht.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)