FBW-Pressetext:
Konsequent ehrliches, hochrelevantes und sorgsam aufbereitetes Aufklärungskino über Cyber-Grooming.
Der Dokumentarfilm von Barbora Chalupová und Vít Klusák beleuchtet das Thema Kindesmissbrauch und Cyber-Grooming im Netz. Eindringlich und konsequent zeigt das filmische Experiment die Wichtigkeit der Prävention auf, die es braucht, um Kinder vor dieser Bedrohung im Internet zu schützen.
Dass die drei erwachsenen Schauspielerinnen, die auf verschiedenen Social-Media-Profilen vorgeben, erst 12 Jahre alt zu sein, in nur 10 Tagen allein 2.458 Kontaktanfragen von Männern mit eindeutigen Absichten erhalten, ist nur eines der schockierenden Fakten, die der Dokumentarfilm offenbart. Von Anfang an begleiten die Zuschauer das filmische Experiment, das sich, vom Aufbau bis hin zu Diskussionen innerhalb des Teams, komplett transparent gibt. Die Schauspielerinnen, die sich auf das Experiment einlassen, werden dabei nie allein gelassen und erhalten psychologische und rechtliche Beratung. Und doch spürt man, wie es in ihnen arbeitet und wie sie die Perspektive eines unschuldigen Kindes, das mit so einer Konfrontation nicht umgehen kann, verinnerlichen. Durch emotionale Momente wie die völlig überraschende Offenbarung, dass sich hinter einem User tatsächlich nur ein Chat-Partner verbirgt, der ohne Hintergedanken ein Gespräch sucht, sowie offene Gespräche mit tatsächlichen Aggressoren setzt der Film auch dramatische und spannende Höhepunkte, was die Wichtigkeit des Anliegens nicht abschwächt. Die Gesichter der Chat-Partner sind ebenso verpixelt wie eindeutige Bildmotive. Mit dem Resultat, die Täter durch Weitergabe der Informationen polizeilich zu verfolgen, geht der Film investigativ vor und wirkt gleichzeitig präventiv. Als Aufklärung, Warnung und der so wichtigen Öffnung für einen öffentlichen Diskurs. Für den Einsatz im Schulunterricht wurde eine mit einem zusätzlichen Kommentar und Erläuterungen aufbereitete 63-minütige Version erstellt. Auch diese wurde von der FBW-Jury mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet.
FBW-Jury-Begründung:
GEFANGEN IM NETZ thematisiert in Form eines experimentellen Dokumentarfilms ein verbreitetes Problem unserer Gesellschaft: dem Umstand, dass viele Kinder und Jugendliche unkontrolliert von den Eltern einen Großteil ihrer Zeit im Internet verbringen. Dort kommt es häufig zu virtuellem sexuellem Missbrauch, was der Film nachdrücklich bestätigt. Die Mehrdeutigkeit des Titels GEFANGEN IM NETZ verweist bereits auf das Thema: In einem Studioversuchsaufbau werden drei erwachsene Schauspielerinnen, die erheblich jünger aussehen, als 12-13-Jährige situiert und antworten in konstruierten Kinderzimmern am Computer auf Anfragen von älteren Männern. Das Experiment beginnt bereits Minuten nach dem Anlegen der Profile auf bekannten Internetplattformen, denn umgehend melden sich Nutzer mit Kontaktanfragen - auch Männer mittleren Alters. Der komplexe Versuchsaufbau bemüht sich um eine möglichst authentische Grundsituation, die ein ungehemmtes Verhalten der potenziellen Missbrauchstäter ermöglicht. Der Film macht dabei die Kommunikationsmuster deutlich und diskutiert sie in Ansätzen sexualpsychologisch .
Die Radikalität der dokumentierten Gespräche und die Konsequenz der Darstellerinnen ermöglichen einen intimen und verstörenden Einblick in die verborgene Welt sexueller Übergriffe. In den Gesprächen werden feste Muster, aber auch individuelle Bedürfnisse deutlich, die ein mitunter differenziertes Bild der Belästiger ermöglichen. Das wird auf der nächsten Stufe, den persönlichen Treffen im zweiten Teil des Films, noch deutlicher. Hier wird teilweise die kriminelle Energie der Täter spürbar, sowie auch deren Uneinsichtigkeit, da die Männer sich als gewöhnlicher Teil der Gesellschaft zu begreifen scheinen. Sie sehen ihre Taten nicht als Übergriffe, sondern als virtuelles Spiel.
Die Jury diskutierte den Film intensiv. Kontrovers wurde die ‚Fallenstellrhetorik‘ des Versuchsaufbaus und die Simulationskraft des Webcam-Setups besprochen. Dabei wurde positiv bemerkt, dass die Inszenierung den mitschwingenden Voyeurismus selbst diskursiviert. Auf diese Weise bietet der Film ein Ambivalenzerlebnis und setzt das systemische Problem gegen den pathologischen Einzelfall, wobei allerdings einfache Erklärungen vermieden werden. Die digitale Maskierung der Täter als ästhetisches Mittel wurde ebenso zwiespältig empfunden, doch funktioniert dieses Stilmittel im Kontext zweifellos. Eine wesentliche Frage war, ob der Film selbst Straftaten tendenziell fördere. Wo ist die Grenze? Doch auch hier kam die Jury zur Entscheidung, dass eben jene Frage auf sehr sinnvolle und produktive Weise an das Publikum zurückgegeben wird.
Es kommt der konsequenten Versuchsanordnung zugute, dass der Film einen überzeugenden und schockierenden Einblick in die dunkle Seite des Internets bietet. Er ist daher als Aufklärung für Eltern und Erzieher*innen gut geeignet. Zugleich ermöglicht er einen psychologischen Blick auf die Täter, die auch vor Erpressung nicht zurückschrecken. Die der Jury vorliegende Fassung bietet einige intensive Momente und wird im Kinoeinsatz funktionieren, während sich die eher auf den informativen Aspekt reduzierte kürzere Fassung für den aufklärenden Schuleinsatz anbietet. In sorgfältiger Abwägung aller Überlegungen und Argumentationen verleiht die Jury dem Film das Prädikat „besonders wertvoll“.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)