Die Berlinale macht, dass die Zeit rennt, selbst im Lockdown. Herrscht am vorletzten Tag etwa schon Aufbruchstimmung?
Beim Berlinale Summer Special präsentieren die 71. Internationalen Filmfestspiele Berlin 126 Filme fürs öffentliche Publikum. Wegen der Coronapandemie findet das besondere Event vom 9. bis zum 20. Juni als reine Open-Air-Veranstaltung statt. Auf www.berlinale.de findet ihr alle Infos zum Programm, zu den Spielstätten und den Tickets.
Morgen Mittag wird bereits verkündet, wer in diesem Jahr die höchste Auszeichnung der Berlinale gewinnen wird. Das Ende des sogenannten Branchenevents ist in Sicht und ich muss zugeben, dass ich etwas wehmütig bin. Aber so ist das eben oft, man hat sich gerade an etwas gewöhnt und muss dann Abschied nehmen. Fünf Tage sind nun mal nicht viel und morgen werde ich sicher feststellen, dass die Zeit in der zweiten Hälfte einer sowieso schon kurzen Woche viel schneller verstrichen ist – ein bekanntes Phänomen, was seit jeher auch für die Berlinale gilt.
Heute habe ich außerdem weniger geschafft, und damit meine ich weniger Filme geschaut, als geplant. Das lag unter anderem an den Folgen des Schlafentzugs, die mich wertvolle Sichtungszeit kosteten. Aus dem Bedürfnis, kurz die Augen zu schließen, wurde eine stattliche zweistündige Tagschlafepisode. Das kann zwar auch im Kino passieren, aber irgendwie hat man den Film ja trotzdem gesehen, eben nur mit geschlossenen Augen. Zu Hause auf der Couch fühlt es sich an wie ein unglücklich ausgeuferter Mittagsschlaf. Das trübt die Laune etwas.
Der Schwächste fliegt
Immerhin ist der Tag mit Nicolas Keppens‘ „Easter Eggs“ ziemlich gut gestartet: eine Perle aus der Sektion Berlinale Shorts. Der belgische Filmemacher porträtiert in seinem animierten Kurzfilm die von einem starken Machtgefälle bedingte Freundschaft zweier Heranwachsender auf fast unerträglich schöne Weise. Dabei spürt er präzise nach, was der Wunsch nach Anerkennung und die Folgen angestauter innerer Wut und emotionaler Abhängigkeit für den in dem Fall Schwächeren bedeuten. Der Film ist nicht nur ein melancholischer Ausflug in ein zum Scheitern verurteiltes Alltagsabenteuer, sondern vor allem eine kluge Verbildlichung problematischer Freundschaftsmuster mit langem Nachhall – 14 Minuten, die sich lohnen.
Gendernauts revisited
Vor meinem erwähnten Malheur, das sich weniger gelohnt hat, mache ich einen Abstecher ins Panorama, wo Monika Treuts „Genderation“ gezeigt wird. Vor über 20 Jahren war die Regisseurin mit ihrem Film „Gendernauts“ in derselben Sektion auf der Berlinale vertreten. Die Dokumentation widmete sich der damaligen Trans*-Szene in San Francisco und gewann den Spezialpreis der Teddy-Jury. Noch vor der Coronapandemie kehrte die Regisseurin nach Kalifornien zurück, um die einstigen Pionier*innen der Trans*-Bewegung erneut zu befragen und zu porträtieren. Was hat sich verändert? Wie blicken die Gendernauten auf die damalige Zeit zurück und was erhoffen sie sich von der Zukunft? Dabei trifft sie unter anderem auf die bekannte Performance-Künstlerin und ehemalige Sexarbeiterin Annie Sprinkle, seit jeher Unterstützerin der Trans*-Szene.
Im Nachklapp beleuchtet die deutsche Filmemacherin die Lebenswege ihrer Protagonist*innen auch in Hinblick auf die immer noch anhaltenden Kämpfe gegen die Gentrifizierung und die Folgen von Trumps trans*feindlicher Politik. Man muss Treuts Vorgängerfilm nicht gesehen haben, um „Genderation“ einordnen zu können. Ob ihr historischer Blick auf die letzten zwei Jahrzehnte der Trans*-Bewegung in diesem Jahr erneut den Teddy-Award gewinnen kann, bleibt abzuwarten. Zumindest gibt er eine Antwort auf die immer wieder aufgeworfene Frage, wie es den Protagonist*innen von damals heute geht.
Alle guten Dinge
Pause. Ich schließe die Augen und als ich aufwache, ist es draußen schon dunkel. Kurz sortieren und den nächsten Film starten, diesmal wieder Wettbewerb, diesmal aus Japan: „Wheel of Fortune and Fantasy“ von Ryusuke Hamaguchi („Happy Hour“, „Asako I & II“).
Der Film ist wunderbar rhythmisch erzählt: Es sind drei Geschichten, die in sich selbst noch mal in drei Akte unterteilt sind. Im Zentrum stehen drei Frauen, die mit unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen kämpfen. In jeder Episode gibt es einen Twist, Hamaguchi spielt dabei auch mit der Erwartungshaltung des Publikums, widersetzt sich Klischees, verortet seine Protagonist*innen in ihren Standpunkten immer wieder neu, lässt sie auflaufen, gewinnen oder resignieren. Es ist ein kluger Film über Enttäuschungen, Scheitern und das Ausloten (weiblicher) Machtressourcen. Auch wenn er mich beeindruckt hat und sicherlich komplexer ist, als er auf den ersten Blick scheinen mag, lasse ich ihn schnell hinter mir.
Mein erdachtes Programm für morgen platzt aus allen Nähten, da werde ich sowieso noch Abstriche machen müssen. Bin ich überhaupt bereit für den letzten Tag? Ich weiß es nicht, aber er darf bald gerne anbrechen.