Ginger und Rosa leben als Teenager im London der Sechziger Jahre. Beide Mädchen hassen die Schule, stellen sich gegen ihre Eltern und lieben nur einander. Nie wollen sie sich trennen. Doch dann bedroht die Kubakrise die Welt. Und während Ginger versucht, sich aktiv der Protestbewegung anzuschließen, sehnt sich Rosa vor allem nach Liebe. Die findet sie tatsächlich - in den Armen von Gingers Vater. Sally Potter gelingt es, die Gesellschaft mit ihren unterdrückten Wünschen und der konservativen Spießigkeit, die in England Anfang der 1960er Jahr herrschte, perfekt zu vermitteln. Sie zeigt die beiden Mädchen als Rebellinnen, die, jede für sich, ihre kleine Revolution gegen das System führen. Mit ihrem Kameramann Robbie Ryan schafft Potter vor allem durch sehr intime Nah- und Großaufnahmen eine große inszenatorische Nähe. Auf Elle Fanning als Ginger liegt Potters erzählerischer Fokus. In ihrem Gesicht spiegelt sich eine faszinierende Mischung aus Unschuld und Erkennen, aus Hoffnung und Verzweiflung, die den Zuschauer permanent in ihren Bann zieht. Newcomerin Alice Englert als Rosa überzeugt ebenfalls auf ganzer Linie und auch die Nebendarsteller sind treffend besetzt. Ein passender Jazz-Score untermalt die mal sinnlich verspielte, mal ernsthaft düstere Stimmung. Coming of age-Story und Milieustudie in einem - Sally Potters neuer Film ist Erzählkunst auf höchstem Niveau.
Jurybegründung:
Ihre Mütter halten sich im Kreissaal die Hände: Ginger und Rosa werden am gleichen Tag in London geboren, dem Tag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Auch als Teenager zu Beginn der 1960er Jahre sind sie die besten Freundinnen und unzertrennlich. Sie schwänzen gemeinsam die Schule, rauchen die ersten Zigaretten, reden über Jungs und die Liebe, über Religion und Politik und träumen davon, ein aufregendes Leben zu führen. Vor allem wollen sie ganz anders werden als ihre Mütter, gegen die sie heftig rebellieren: Rosa gegen die allein erziehende, überforderte Anoushka und Ginger gegen Natalie, die von einem Leben als Malerin träumt und mit ihrem Alltag und ihrer Ehe unzufrieden ist. Für die Mädchen wird Gingers Vater Roland, ein unkonventioneller Schriftsteller und Pazifist, zum gemeinsamen Vorbild und romantischen Ideal. Er nimmt sie ernst in ihrer Besorgnis wegen der atomaren Aufrüstung und ermutigt sie, sich der Protestbewegung anzuschließen.
Aber während Rosa weniger an Rolands pazifistischen Idealen, denn an ihm als Mann interessiert ist und ihre Beteiligung an den Demonstrationen bald wieder einstellt, geht Ginger in ihrem politischen Engagement immer mehr auf. Als die Eltern sich endgültig trennen und die Kuba-Krise eskaliert, kämpft sie gegen ihre zunehmende Panik an, indem sie schreibt und Protestaktionen gegen die drohende Kriegsgefahr organisiert. Sie streitet für den Frieden, aber auch darum, als aufstrebende Künstlerin und politische Aktivistin ernst genommen zu werden. Dafür erhält sie Anerkennung in der Gruppe und Unterstützung von ihrem Patenonkel Mark, dessen Lebensgefährten und einer amerikanischen Freundin, der Dichterin Bella. Dadurch entfremdet Ginger sich aber auch zunehmend von Rosa. Als die Situation eskaliert, fühlt sie sich ausgerechnet von den Menschen, die ihr am liebsten sind, verraten: von ihrem Vater, der seine libertäre Gesinnung nicht nur für die Politik, sondern auch für sein Privatleben reklamiert, und von Rosa, die sich letztendlich für eine traditionelle Frauenrolle entscheidet, die in der Liebe ihre Erfüllung findet.
Mit GINGER & ROSA ist Sally Potter ein Film gelungen, der persönliche und politische Entwicklung auf faszinierende Weise verknüpft und gekonnt zusammenführt. Sie erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte zwischen Liebe und Politik, Loyalität und Rebellion. Es geht um Freundschaft und Verrat, um Freiheit und Verantwortung, und um moralische und ethische Entscheidungen, die Menschen aufgrund ihres speziellen Wertesystems treffen.
Das Private ist politisch, auch wenn es im London der frühen 1960er Jahre zunächst nicht so scheint. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs sind noch deutlich spürbar, und die gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen konservativ fest gefügt. Gerade für Frauen sind die Möglichkeiten, ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen, begrenzt. Das sehen die jungen Protagonistinnen an ihren Müttern, und dagegen begehren sie auf. Jeans und Zigaretten, Musik und romantische Vorstellungen von der Liebe sind für sie Formen des Protests. Sie wollen „leben“ und auf ewig zusammen bleiben, wenn es denn ein „ewig“ gibt.
Deshalb sind sie auch ernsthaft besorgt wegen der atomaren Gefahr, die ihr Leben quasi von Geburt an bedroht und nun in der Kuba-Krise ihren Höhepunkt erreicht. Damit verändern sich auch die Formen des Aufbegehrens: Wirkt die gemeinsame Rebellion der Mädchen am Anfang noch unbefangen, spontan und romantisch geprägt, so gewinnen die Konflikte in dem Maße an Schärfe, wie sie sich auf Ginger und ihr politisches Engagement konzentrieren. Für sie überlagert die politische Krise lange Zeit die familiäre Katastrophe, bis die brodelnden Emotionen schließlich aus ihr herausbrechen und sie die persönliche Verletzung artikulieren kann, die „verheerender ist als die Atombombe“.
Dennoch gibt es in dem Film keine eindeutig positiven und negativen Figuren. Die Personen sind geprägt von ihrer Zeit und wollen das Beste aus ihr machen. Die unterschiedlichen Positionen sind nachvollziehbar, wobei das Glücksstreben jedes einzelnen zusammengenommen zur Katastrophe führt. Es wird aber auch sehr deutlich, dass die Frauen in diesem Kontext die eindeutig schlechteren Karten haben. So ist GINGER & ROSA auch ein Film über das Frauenbild in den frühen 1960er Jahren, über die Auseinandersetzung zwischen Müttern und Töchtern und über eine Mädchenfreundschaft, die zerbricht, als jede von ihnen sich unter den gegebenen Verhältnissen für einen anderen Weg entscheidet.
Sally Potter hat ihre Geschichte zeitlich und gesellschaftlich genau verortet. Zusammen mit ihrem Production-Designer Carlos Conti hat sie Stadtlandschaften gefunden und kreiert, die noch von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs geprägt sind und in deren Brachen die Mädchen sich ihre Freiheiten nehmen können - im Gegensatz zu den beengten Wohnverhältnissen, in denen die familiären Verstimmungen hoch kochen. Der Soundtrack mit zeitgenössischen Jazz-Stücken - unter anderem von Dave Brubeck, Miles Davis, Thelonius Monk, die die Protagonisten in bestimmten Situationen im Radio oder auf Platte hören - ist stimmiger Ausdruck ihrer inneren Haltungen und Gefühle.
Der Film ist sehr geradlinig inszeniert und zum großen Teil mit einer schwebenden Handkamera (Robbie Ryan) aufgenommen. Er ist ganz nah bei seinen Protagonistinnen, die von Alice Englert (Rosa) und vor allem von Elle Fanning (Ginger), die zu Beginn der Dreharbeiten erst 13 Jahre alt war, kongenial verkörpert werden. Die Geschichte ist konsequent aus der Perspektive von Ginger erzählt. Das spiegelt sich in der Kamera, die sie mit intimen Nah- und Großaufnahmen begleitet und in ihrem Gesicht jene besondere Mischung aus Unschuld und Erkennen, Hoffnung und Verzweiflung aufscheinen lässt, die den Zuschauer vollkommen in ihren Bann zieht. Auch die übrigen Rollen sind hervorragend besetzt und vermitteln große Authentizität. Damit ist GINGER & ROSA ein Film, der als Coming-of-Age-Geschichte und Milieustudie gleichermaßen berührt, fasziniert und überzeugt.
Quelle: Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW)